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Kommentar: Syrieneinsatz der Bundeswehr – Eine Entscheidung zwischen vielen Übeln

Idlib ist die letzte Rebellenhochburg in Syrien (Bild: AFP Photo/ABDULMONAM EASSA)
Idlib ist die letzte Rebellenhochburg in Syrien (Bild: AFP Photo/ABDULMONAM EASSA)

Das Thema schien so einfach, als mich die Kollegen von Yahoo Nachrichten um einen Kommentar zur aktuellen Debatte um einen etwaigen Bundeswehreinsatz in Syrien baten. Die Kollegen nahmen an, dass ich hierzu eine dezidierte Meinung habe, die ich niederschreibe und über sich sodann, wie auch sonst, wieder trefflich streiten lässt. Doch mir war gleich klar, dass es diesmal nicht ganz so leicht sein wird. Denn anders als bei vielen anderen politischen Streitfragen fällt mir hier eine Festlegung auf ein Für oder Wider nicht leicht, sofern dies guten Gewissens überhaupt möglich ist.

Bei früheren parlamentarischen Debatten um bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr stand man entweder auf Seiten der Kritiker, die einen deutschen außenpolitischen Sonderweg fürchteten und historisch bedingte Zurückhaltung forderten, damit Deutschland niemals wieder als imperialistische Großmacht wahrgenommen werde. Oder man befürwortete es, dass Deutschland als Teil der zivilisierten Welt im Rahmen internationaler Mandate humanitäre Einsätze absicherte und hierzu auch militärisch seinen Beitrag leistete. Es war letztlich die Entscheidung, ob man eher einer pazifistischen Gesinnungsethik oder einer praktischen Verantwortungsethik folgen mochte.

Als es um den Kampf der freiheitlichen Staatengemeinschaft gegen die Terrorherrschaft des Islamischen Staates ging, fiel auch mir eine Festlegung leicht: Die IS-Schlächter mussten gestoppt werden, dieses Ziel war alternativlos. Und hierbei leisteten die Tornados der Bundeswehr wertvolle Aufklärungsarbeit.

Verbrecher auf jeder Seite in Idlib

Doch diesmal, bei der Verteidigung Idlibs gegen die syrischen Regierungstruppen und ihre russischen Verbündeten, liegen die Dinge anders. Im syrischen Bürgerkrieg gibt es eben nicht die eindeutige Rolle des Hauptschurken, des alleinigen Aggressors. Sondern es gibt – in einer politisch für Laien und Außenstehende kaum zu überschauenden Gemengelage – viele Übel, und allenfalls kann zwischen größeren und kleineren gewählt werden. Jede Intervention verschiebt die Kräfteverhältnisse von der einen verbrecherischen Seite zur anderen verbrecherischen Seite.

Fraglos trifft zu, dass Bashar al-Assad ein Massenmörder und Kriegsverbrecher ist, dessen Regime beim Vorgehen gegen politische Gegner und Feinde von Außen keine Rücksicht nimmt auf zivile Opfer und die Menschenrechte. Selbst Chemiewaffen und andere geächtete Kriegspraktiken sind für Assad kein Tabu. Ihm und seinen nicht minder zimperlichen russischen Waffenbrüdern militärisch Einhalt zu gebieten, erscheint daher als legitime Forderung.

Unter den Rebellen in Idlib haben sich längst radikale Islamisten durchgesetzt (Bild: AFP Photo/OMAR HAJ KADOUR)
Unter den Rebellen in Idlib haben sich längst radikale Islamisten durchgesetzt (Bild: AFP Photo/OMAR HAJ KADOUR)

Allerdings sind viele Assad-Gegner keinen Deut besser, und sie würden von jeder Schwächung des Diktators unmittelbar profitieren. Aktuell besteht die Hälfte des Anti-Assad-Lagers aus islamistischen Fanatikern, die dem IS in nichts nachstehen. Manche von ihnen haben in der nordsyrischen Region Afrîn Seite an Seite mit der türkischen Armee schlimmste Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verübt; sie haben über 200.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und ihnen alles genommen, wie die UN erst vor zwei Wochen in Genf bestätigte.

Nun halten sich derzeit über 10.000 dieser Verbrecher in Idlib auf, der Region, die als letzte große Rebellenhochburg gilt und auf die Assad es nun ultimativ abgesehen hat. Unter ihnen sind viele tschetschenische Dschihadisten, die Putin unbedingt eliminieren will – ein brutales und kompromissloses Vorgehen zwar, doch aus russischer Sicht nachvollziehbar.

Keine Befreiung um jeden Preis

Und hier liegt diesmal das Dilemma. Idlib sollte tatsächlich befreit werden von den Milizen der Islamisten und Dschihadisten. Aber dies kann, dies darf nicht um jeden Preis geschehen. Wenn es einen sicheren Weg gäbe, Giftgasangriffe auf die Zivilbevölkerung zu vermeiden, würde ich einen Waffeneinsatz wohl sogar befürworten. Doch das Problem ist, dass dies nicht möglich ist und Assad vor dem Einsatz solcher Waffen auch diesmal nicht zurückschrecken wird.

Die westliche Drohung an Assad, in diesem Fall militärisch zu reagieren – und eben hieran soll die Bundeswehr sich dann in noch näher zu bestimmender Weise beteiligen – krankt daran, dass sie die zeitliche Abfolge ignoriert: Denn vorrangigstes Ziel sollte nicht sein, Giftgasangriffe zuerst abzuwarten und sie anschließend zu rächen – sondern sie zu verhindern und Zivilisten zu schützen! Dass Assad sich durch Drohungen nicht von der Überschreitung „roter Linien“ abschrecken lässt, hat er indes zur Genüge bewiesen.

Wenn dagegen eine Lösung für Idlib bedeuten sollte, sich nötigenfalls gemeinsam mit Bashar al-Assad und Wladimir Putin, also mit Marionette und Puppenspieler, an den Verhandlungstisch zu setzen, dann sollte der Westen eben über seinen eigenen „diplomatischen Schatten“ springen.

Der Westen hat sein Gesicht bereits verloren

Das Argument, dies würde einen Gesichtsverlust bedeuten, lasse ich nicht gelten – der Westen hat schon lange sein Gesicht verloren, spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Überfall des NATO-Partners Türkei auf Afrin, der in enger Kooperation mit den schlimmsten Terroristen unserer Zeit (darunter al-Qaida-Ableger und ehemalige ISIS-Kämpfer) erfolgt war, ohne dass es irgendwelche diplomatischen geschweige denn militärischen Konsequenzen nach sich gezogen hätte.

Der Diskussion um ein erneutes Syrien-Mandat der Bundeswehr sollte daher die grundsätzliche Frage übergeordnet sein, wie eine Befriedung Syriens und die dortige gemeinsame Nachkriegsordnung aussehen kann, und wie islamistische Warlords und Terrornester wirkungsvoll beseitigt werden können – und zwar notfalls eben unter Einbeziehung aller Beteiligten -, ohne dass es noch mehr unschuldige und zivile Opfer gibt und noch mehr Flüchtlingsströme ausgelöst werden.

Man kann die Frage um einen Bundeswehreinsatz und das Schicksal Idlibs nicht alleine für sich betrachtet beantworten. In der hochkomplexen Konfliktlage Syrien hängt alles irgendwie mit allem zusammen, und mit jeder neuen Maßnahme verschlimmerte sich bisher stets das Chaos ist. Der Knoten muss gelöst werden, doch Rache und Eitelkeit sind hierbei keine guten Ratgeber. Es braucht Realpolitik. Diplomatie, die am Ende allen weh tut, aber mit der am Ende jeder Leben kann.

Bei einem Angriff der Regierungstruppen drohen neue Fluchtwellen (Bild: AFP Photo/OMAR HAJ KADOUR)
Bei einem Angriff der Regierungstruppen drohen neue Fluchtwellen (Bild: AFP Photo/OMAR HAJ KADOUR)

Wenn darum geht, den Menschen in Syrien zu helfen, müssen auch die USA und Europa in den sauren Apfel beißen. Denn Syrien und seine Bewohner sind kriegsmüde. Wenn eine internationale Militärpräsenz in Syrien zur Sicherung einer Stabilisierungs- und Befriedungsphase unverzichtbar ist und sich hieran auch die Bundesrepublik beteiligt, würde ich dem zustimmen; nicht jedoch, wenn es um disziplinarische, rückwärtsgerichtete Symbolpolitik aus einem willkürlichen Anlass wie einem Angriff auf Idlib geht.

Kurden als Schlüssel?

Ich halte es durchaus für denkbar, wenn die westliche Seite pragmatisch den ersten Schritt macht und etwa auf die Verabschiedung einer gemeinsamen Zusicherung von Seiten der USA und Russlands hinzuwirken versucht, diese eine weitgehende Autonomie Nordsyriens unter Verwaltung der kurdischen Kräfte vorsehen könnte. Diese sind erklärte Gegner der Islamisten und haben bereits bewiesen, dass sie für Sicherheit und Stabilität sorgen können. Voraussetzung wäre ein Abzug der türkischen Truppen aus den von ihnen illegal besetzten Gebieten.

Dieser Lösungsansatz würde sowohl Assad als auch Putin eine tragfähige Perspektive bieten und ihnen eine würdevolle „Exit-Strategie“ aus dem Dauerkonflikt eröffnen. Würde ein solcher diplomatischer Vorstoß scheitern, würde es doch zur weiteren Eskalation um Idlib kommen und würden Assad und Putin am Ende gar tatsächlich wieder Giftgas einsetzen, so hätte der Westen es diesmal immerhin versucht. Dann wäre es an der Zeit, auf noch zu bestimmende Weise zu reagieren und gegen die Kriegsverbrecher mit aller Härte vorzugehen. Doch zuvor muss diplomatisch alles Erdenkliche ausgelotet werden.

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) haben sich als stabilisierender Faktor bewiesen (Bild: AFP Photo/DELIL SOULEIMAN)
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) haben sich als stabilisierender Faktor bewiesen (Bild: AFP Photo/DELIL SOULEIMAN)

Ohne Frage ist die aktuelle Lage höchst schwierig. Es ist eine hässliche Situation, und ich möchte nicht in der Haut der Bundesregierung stecken, hier entscheiden zu müssen. Doch wie auch immer die Entscheidung ausfällt – sie sollte ein klares Signal aussenden und alle erdenklichen Folgen abwägen. Einen konkreten Nutzen hätte allerdings eine offene militärische Beteiligung der Bundeswehr an Anti-Assad-Operationen: Geschäfte mit dem Iran, der seit Beginn dieses Krieges Assads Regime massiv unterstützt, wären dann endgültig Geschichte. Das wäre dann der vielleicht einzige unmittelbar positive Effekt daran.

Nachtrag: Nach Fertigstellung dieses Kommentars haben sich die Türkei und Russland auf die Einrichtung einer demilitarisierten Zone in Idlib geeinigt. Eine Offensive der Regierung soll damit vorerst abgewendet sein, ob sich daraus eine dauerhafte Lösung für Idlib entwickelt, bleibt abzuwarten. Unterdessen pocht Erdogan weiter auf ein Vorgehen gegen die kurdischen Strukturen in Nordsyrien.