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Kommentar: Todesursache Behindertenfeindlichkeit

Gedenken am Tatort in Potsdam (Bild: REUTERS/Michele Tantussi)
Gedenken am Tatort in Potsdam (Bild: REUTERS/Michele Tantussi)

Vier Menschen mit Behinderung werden von einer Pflegekraft ermordet. Politik und Medien spekulieren im Anschluss über die Mordmotive "Erlösung" und "Überforderung" der Täterin. Die behindertenfeindliche Berichterstattung und fehlende Sensibilisierung gegenüber Menschen mit Behinderung zeigen auf, wie rückständig der deutsche Diskurs noch ist.

Von Nour-El-Houda Khelifi

In Potsdam wurden letzte Woche vier Menschen mit Behinderung in ihrem eigenen Zuhause brutal ermordet, sowie eine weitere fünfte Person schwer verletzt. Die Opfer lebten in einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderung, die Täterin war eine Pflegerin vor Ort. Entsetzen und Fassungslosigkeit machen sich in Politik und Medien breit - doch nicht nur wegen des vielfachen Mordes, sondern auch wegen der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung. Ausschlaggebender Auslöser dafür war der Versuch einer Erklärung über die Mordmotive vom Polizeipsychologen Dr. Gerd Reimann in der Sendung "zibb" vom rbb. Neben möglichen "schweren Konflikten zwischen Täter und Opfern", verweist Dr. Reimann auch auf "dramatische Überforderung des Täters in dieser Situation. Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahinter steht, die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind", so der Polizeipsychologe.

Übersetzt könnte man spekulieren, dass die Frau in ihrem Beruf als Pflegerin überfordert war und gleichzeitig die Menschen von ihrem "Leid" erlösen wollte. Der Aufschrei, der danach auf Social Media erfolgte, ist legitim. Im Bezug auf die Tötung von Menschen mit Behinderung von "Erlösung" zu sprechen ist eine gefährliche Rhetorik, die man von den Nationalsozialisten kennt. Darüber hinaus werden Menschen mit Behinderung als unmündig erklärt, die mediale Berichterstattung, die an der Stelle für die nötige Sensibilisierung und Verwendung korrekter Sprache verantwortlich sein sollte, befeuert den Ableismus nur. Auch die Autorin Laura Gehlhaar kritisiert auf Twitter die Sprache in der Berichterstattung über die Mordfälle in Potsdam.

Medien & Politik, hört auf von den "besonders Schutzlosen" oder "Schwächsten" zu sprechen. Das ist Othering und Ableismus in seiner Höchstform! Ihr macht eine Spaltung in IHR und WIR auf. Hört auf damit!Laura Gehlhaar

Strukturelles Problem: Gewalt an Menschen mit Behinderung

Diese Stereotypisierung von Menschen mit Behinderung bestätigt eigentlich nur, dass diese immer noch als Menschen dritter Klasse angesehen werden. In der Berichterstattung über die Mordfälle in Potsdam ging es flächendeckend nur um die Täterin: Wie sie davor gelebt hat, ihre Arbeit verrichtet hat, was sie als Person ausmacht. Über die Leben der Opfer nahezu keine Spur. Der Fall wird als Einzelfall betrachtet, wobei Studien das Gegenteil beweisen, denn Menschen mit Behinderung sind demnach zwei bis viermal häufiger von Gewalt betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt, die Dunkelziffer liegt vermutlich weitaus höher. Ob sexueller Missbrauch, körperliche oder psychische Gewalt, in der Regel sind die Peiniger aus dem unmittelbaren Umfeld, wie Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, Betreuungspersonal, Familienmitglieder oder Werkstatt-Kollegschaft. Auch die schlechte Bezahlung in sogenannten "inklusiven" Werkstätten lässt darauf schließen, dass Menschen mit Behinderung selbst in eigens geschaffenen Räumen minderwertig behandelt und ausgebeutet werden.

Alles Indizien dafür, dass es sich hier nicht lediglich um "Einzelfälle" handelt, sondern um ein strukturelles Problem, wo Menschen mit Behinderung an ihrem Lebensort ihrer Freiheit beraubt werden. Denn besonders die Wohnformen, in denen Menschen mit Behinderung leben, müssen hinterfragt werden. "Denn diese Heime sind 'totale Institutionen'. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt", merkt Menschenrechtsaktivist Raúl Krauthausen im Magazin "Neue Norm" an. Wohnheime allgemein, so wie das Oberlinhaus in Potsdam, in dem die Tat begangen wurde, stehen seit längerem heftig in der Kritik aufgrund unmenschlicher Praktiken. Seit 2019 ermittelt die Polizei etwa gegen Angestellte einer Einrichtung in Bad Oeynhausen, einer der größten Behinderteneinrichtungen Deutschlands, aufgrund von Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung durch den Einsatz von Reizgas. Die Ermittlungen laufen mittlerweile gegen 145 Angestellte.

Im Kontext von Diskriminierung und Erfahrungen von Betroffenen sind Machtmissbrauch und der strukturelle Aspekt immer der gemeinsame Nenner. Dass auch Menschen mit Behinderung von Diskriminierung betroffen sind, wird in den meisten Diskursen ausgelassen. So auch seit Anbeginn der Pandemie, in der wenig Rücksicht auf Menschen mit Behinderung genommen wurde, sei es teilweise bei der Priorisierung von Impfungen oder den generellen Schutzmaßnahmen. Dabei darf nicht vergessen werden, wieviele Überschneidungsformen es in der Diskriminierung gibt. Besonders Frauen oder migrantische Frauen mit Behinderung sind statistisch gesehen weitaus mehr Gewalt ausgesetzt als Männer mit Behinderung. Die Forderungen nach einer inklusiven Politik sowie einer gründlichen Prüfung von Einrichtungen und Heimen für Menschen mit Behinderung werden immer lauter.

Dass Menschen wütend auf die Tat in Potsdam blicken, mehr als verständlich. Die systematische Unsichtbarmachung und Unterdrückung von Menschen mit Behinderung in Deutschland ist ein ernstzunehmendes Problem, zumal das Thema Behinderung, ob sichtbar oder unsichtbar, bis heute als Tabuthema behandelt wird. Gerade Medien und Politik müssen es in ihrer Verantwortung sehen, wie diskriminierungsfrei Inhalte vermittelt werden, anstatt ins Victim-Blaming zu rutschen oder Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Eine Frau wird doch auch nicht für ihre Vergewaltigung verantwortlich gemacht, weil sie einen Minirock getragen hat. Oh.