Ein Kommentar von Ulrich Reitz - Für Grüne ist der Chef-Knall eine große Chance – vor allem für Habecks Kanzlerplan

Omid Nouripour, Ricarda Lang, Robert Habeck, Annalena Baerbock: Die Spitzenpolitiker der Grünen müssen sich Kritik aus den eigenen Reihen gefallen lassen.<span class="copyright">Kay Nietfeld/dpa</span>
Omid Nouripour, Ricarda Lang, Robert Habeck, Annalena Baerbock: Die Spitzenpolitiker der Grünen müssen sich Kritik aus den eigenen Reihen gefallen lassen.Kay Nietfeld/dpa

Es kommt überraschend, ist aber auch konsequent: Ricarda Lang und Omid Nouripour treten zurück. Sie machen den Weg frei für einen grünen Neuanfang. Damit setzen sie ein Vorbild für andere. Aber wo wollen die Grünen jetzt hin?

Der Zeitgeist ist anti-grün. Dafür haben nicht die anderen gesorgt, nicht die böse AfD, nicht die böse Sahra Wagenknecht, nicht der böse Markus Söder, nicht einmal der halb-böse Friedrich Merz. Wenn die Stimmung in der Bevölkerung so radikal umgeschlagen ist gegen die Grünen, die einmal die Hoffnung waren für viele Menschen, dann haben es die Grünen selbst versemmelt.

Die Grünen sind eine Moral-Partei, gerne inszenieren sie sich auch so. Man kann es an der Bundesaußenministerin studieren, die sich, emotional wie sie ist, bisweilen hart an der Grenze zur Professionalität bewegt. Oder am Bundeswirtschaftsminister, der mit seinen Wärmepumpen Deutschland zu nichts weniger machen will als dem weltweiten Klimavorbild.

Will sagen: Moral, vor allem viel davon, hat auch ihre schlechten Seiten. Die gute Seite an der Moralpolitik zeigt sich am Rücktritt von Ricarda Lang, Omid Nouripour und dem gesamten Vorstand der Grünen. Die Grünen sind, der Parteivorsitzende sagt es ungeschminkt, in der Krise, der Vorstand hat dafür Verantwortung, also muss der Vorstand gehen.

Die Grünen geben mit ihren Rücktritten ein Vorbild

Das ist konsequent, man kann sich als Staatsbürger dafür nur bedanken. Haben wir uns nicht allzu sehr daran gewöhnt, dass es bei Fehlverhalten keine Rücktritte gibt? Dass es diese, wenn auch schmerzliche, Rückkopplung von Polit-Eliten zur Bevölkerung allzu oft nicht mehr gibt?

Deshalb: Die Grünen geben also mit ihren Rücktritten ein Vorbild. Es ist eine Art kathartischer Akt, ein Akt der Reinigung. Schön ist der Gedanke, den die beiden mit ihrer Demission setzten – es war ihnen eine Ehre, ihrer Partei gedient zu haben. Das war keine Show, es war glaubwürdig.

Keine Partei hat sich dem Verursacherprinzip so sehr verpflichtet wie die Grünen. Die drastischen Wahlniederlagen – zuletzt in den drei ostdeutschen Bundesländern, gehen weniger auf die Unzulänglichkeiten grüner Regionalgrößen zurück, sondern auf den Bundestrend. Und den haben die Grünen mitgemacht. Also haben sie den grünen Absturz verursacht, ergo gehen sie.

Lang und Nouripour ziehen keine Spur der Verwüstung hinter sich her

Wobei: Lang und Nouripour ziehen keine Spur der Verwüstung hinter sich her. Sie haben sogar viel richtig gemacht – sie haben etwa wesentlich professioneller, auch fehlerfreier kommuniziert als etwa die Kollegin von der SPD, Parteichefin Saskia Esken. Um vom Kanzler gar nicht erst zu reden.

Parteichefs sind permanent in der Öffentlichkeit, stets läuft irgendwo eine Kamera mit, und oft ist es nicht die eigene. Und die anderen suchen nicht nach freundlicher Bestätigung, sondern nach Fehlern. Da muss man auch erst einmal sauber durchkommen - diesen Job haben die beiden Grünen anständig erledigt. Von ihnen gibt es jedenfalls keine Ansammlung peinlicher Auftritte und seltsamer Versprecher wie von ihrer Parteifreundin im Außenamt.

Dem anti-grünen Zeitgeist konnten die Vorsitzenden nichts entgegensetzen

Aber wenn der Zeitgeist anti-grün ist, dann hätten die Vorsitzenden dieser Partei diesem für sie feindlichen Mainstream eben auch etwas Starkes entgegensetzen müssen. Warum? Es wäre ihr Job gewesen. Das haben sie nicht fertig gekriegt.

Sie haben es auch nicht in der Nase gehabt. Zu sehr haben sie sich von der eigenen Überzeugung mitreißen lassen. Zu lange geglaubt, dass ihre Überzeugung so überzeugend ist, dass alle anderen davon ebenfalls überzeugt sein müssten.

„Die Selbstgerechten“, so hat Sahra Wagenknecht ihr Buch genannt. Es wurde ein gigantischer Bestseller. Die Selbstgerechten, damit sind die Grünen gemeint. Weshalb hat es darauf nie eine grüne Antwort gegeben? Weil es sie nicht gibt – wohl kaum.

Der Kalender bestimmt die Aufgaben der nächsten Grünen-Führung

Das führt zum zweiten Fehler der beiden grünen Vorsitzenden: Sie haben sich als Pressesprecher ihrer Regierungsmitglieder verstanden. Nun gut – die Minister haben die Deutschen auch permanent überfordert, darum gab es stets etwas zu verteidigen. Aber Parteivorsitzende sollten schon erklären, wohin man als Grüne die Gesellschaft führen will, das haben die Noch-Amtsinhaber nicht vermocht.

Ein letztes Wort zum Faktor Zeit, genauer: zum Timing. Es ist fast perfekt. Mitte November soll eine neue Parteiführung gewählt werden, dann tagt der grüne Parteitag in Wiesbaden. Bis dahin sollte der Bundeshaushalt verabschiedet sein – oder eben nicht.

Will sagen: Der politische Kalender legt nahe, welche Aufgabe die nächste grüne Parteiführung hat. Dafür zu sorgen, dass „Grün“ nicht mehr als Synonym von Bedrohung empfunden wird, sondern als – vielleicht unbequeme – Chance.

Falls das nicht gelingt, braucht Robert Habeck als Kanzlerkandidat gar nicht erst anzutreten – bei den heutigen Umfragewerten und nach den desaströsen Wahlergebnissen ist das Vorhaben einer grünen Regierungschef-Bewerbung ohnehin hart an der Grenze zur Lächerlichkeit.

Lang und Nouripor übernehmen Verantwortung, die auch Habeck und Baerbock tragen

Die Grünen sind einmal angetreten, Volkspartei zu werden. Was das bedeutet, Volkspartei nicht nur sein zu wollen, sondern auch tatsächlich zu sein, haben sie mit ihrer Regierungspolitik durchkreuzt. Insofern muss man sagen, dass Lang und Nouripour mit ihren Rücktritten auch Verantwortung übernehmen für Habeck und Baerbock.

Die große Frage lautet, ein Jahr vor der Bundestagswahl: Halten sie den großen Anspruch aufrecht, den SPD und Union erheben? So hatten sie es geplant. Dann aber müssen sie sich auch ändern. Sie haben sich in eine Nische manövriert, da müssen sie nun wieder heraus. Das ist der Anspruch für das, was sie selbst „Neuanfang“ nennen. Im Sinne des politischen Wettbewerbs, von dem die Demokratie lebt:

Freuen wir uns jetzt mal darauf, wie es mit den Grünen weitergeht.