Ein Kommentar von Ulrich Reitz - Mitten im Asyl-Streit ergibt sich eine große Chance gegen die AfD
Der Asylgipfel ist eine einmalige Chance, aber auch die letzte für lange Zeit. Regierung und Opposition sollten zeigen, dass auch Demokratien große Probleme lösen können.
Damals, im Herbst 2015, sagte Angela Merkel, die deutsche Grenze könne sie nicht dichtmachen für Migranten. Es folgten, im Zeitraffer, neun Jahre Kontrollverlust.
Niemand wird behaupten, dass diese neun Jahre Deutschland zu einem besseren Ort gemacht hätten. Schon gar nicht zu einem sichereren.
Jetzt ergibt sich eine große Chance gegen die AfD
Jetzt wäre die Chance, diese Periode, in der die AfD groß wurde, zu beenden. Merkels Nachfolger als Bundeskanzler hat es schon mehrfach gesagt inzwischen, allerdings als Tatsachenbehauptung, die unwahr ist: Deutschland könne sich die Menschen aussuchen, die die Landesgrenzen überqueren, um hier zu bleiben. Das kann Deutschland gerade nicht, weil von Angela Merkel und von Olaf Scholz bisher die Gesetze so ausgelegt werden, dass jeder, der an der Grenze „Asyl“ sagt, hereingelassen werden muss.
So steht es nicht im deutschen Grundgesetz. So steht es aber in europäischen Verordnungen, so haben Europas Richter geurteilt, und deutsche Verfassungsrichter haben es flankiert. Es waren vor allem Juristen, politisch geleitet von einem unbegrenzten Schutzgedanken, die das geknüpft haben, was man einen gordischen Knoten nennt.
Politik kann zeigen: Demokratie funktioniert
Der soll jetzt durchgehauen werden, das ist die einmalige Chance, die sich gerade bietet. Es ist eine Chance einer desillusionierten Bevölkerung zu zeigen, dass unsere Demokratie auch funktionieren kann, gerade dann, wenn es darum geht, große Probleme zu lösen.
Grenzen dicht – diese Lösung hat die AfD erfunden. Sie konnte damit aber nur Karriere machen, weil Union, SPD, Grüne und FDP das zugelassen haben. Der negative, destruktive Sound der Debatte, der hatte nur eine Chance, weil die Bonner Parteien, um im Bild zu bleiben, in diese schrille Jukebox immer neue Geldstücke warfen.
Hätte Merkel das Problem damals gelöst, der Sound des Zerstörerischen, Frustrierten, Systemfeindlichen, hätte keinen Resonanzboden gehabt. Es folgten die grünen Jahre.
Der grundsätzliche Irrtum der Asyl-Politik
Das ist der politische Kern der Asylwende, für die es jetzt ein, neudeutsch: „window of opportunity“ gibt. Sie haben den Karren vor die Wand gefahren: Ein Kanzler, der auf dem Tiefpunkt seines Ansehens steht. Die Grünen, deren Philosophie als regierungsuntauglich enttarnt wurde – als grundsätzlicher Irrtum: Es ist nicht ausländerfreundlich, jeden jungen Mann unkontrolliert hereinzulassen, dessen Familie genug Geld für die Schlepper aufbrachte.
Ausländerfreundlich wäre beispielsweise eine feministische Ausländerpolitik, die alles unternehmen würde, um jungen afghanischen Frauen in Deutschland eine Chance zu eröffnen, burkafrei ihren Weg zu machen.
Längst gibt es auf den Straßen einen oft lauten, bisweilen aber auch leisen Abwehrkampf westlicher Zivilisation gegen östliche Religionsfanatiker – je mehr es werden, die den Koran gegen alle aufgeklärte Vernunft wörtlich nehmen, als Kampfauftrag, desto platzgreifender wird ein frustrierendes Lebensgefühl: Wird mich mein Staat gegen diesen kulturellen Angriff wirklich schützen? Es ist auch kein Zufall, dass die eindringlichsten Warnungen von integrierten Moslems ausgesprochen werden, die sich lange schon mit den Bedingungen gelingender Integration auseinandersetzen.
Antwort auf die unkontrollierte Migration
In den Tagen nach den beiden Ost-Wahlen gehört zu den meistgesagten Sätzen, nicht einmal die anderen Rechtspopulisten in Europa sollten von der deutschen AfD etwas wissen. Das stimmt, einerseits.
Andererseits haben sich die Länder, die die Asyl-Bremse gezogen haben, nicht nur von den Grünen in Regierungsverantwortung verabschiedet, sondern auch von deren Ideologie: Dänemark, Schweden, zuletzt die Niederlande, davor Italien, und davor Polen, Ungarn, die Slowakei – sie alle gestalten ihre Migrationspolitik inzwischen nach dem Slogan, den die Briten als Antwort auf die unkontrollierte Migration erfunden haben – noch bevor sie Europa verließen. „Take back control.“ Die Wähler danken es ihnen.
Dagegen stellen sich jetzt die Grünen. Das kann ihnen im Ernst niemand vorwerfen, es entspricht den Dogmen, die sie groß gemacht haben. Die Sozialdemokraten haben auch viele Jahre gebraucht, bevor sie mit der sozialen Marktwirtschaft im Godesberger Programm ihren Frieden geschlossen haben.
Grüne und ihre Anpassungsschmerzen
Die Grünen erleben jetzt ihre Anpassungsschmerzen. Toni Hofreiter sagt, wer die Grenzen für Migranten dichtmachen wolle, gefährde Europa, den europäischen Binnenmarkt und „Millionen von Arbeitsplätzen“. Hofreiter meint derlei ernst, so wie es die AfD auch ernst meint, wenn sie sagt, offene Grenzen gefährdeten Wohlstand und Sozialstaat und Identität. Die Apokalpyse war eben immer auch bei den Grünen zuhause.
Annalena Baerbock warnt vor einem Alleingang Deutschlands in der Asylpolitik. Die grundseriöse FAZ fragt fassungslos: „Macht sie Witze?“ Für den deutschen Alleingang – Leitlinie: Wir nehmen im Zweifel alle – sind vor allem die Grünen verantwortlich, auch wenn sie gar nicht regierten, wie in der Merkel-Zeit. Und wo sie regierten, haben sie alles verhindert oder behindert oder wenigstens als „rechts“ und „Nazi“ geframed: Bis zuletzt haben sie versucht, die erste zarte Einigung auf eine Gemeinsame Europäische Asylpolitik zu hintertreiben.
Grenzen dicht heißt übrigens nicht: Grenzen dicht – für alle. Es ist auch nicht das Ende einer verantwortungsvollen Asylpolitik. Sondern der Anfang davon. Jedenfalls kann es das sein.
Frei von allem Pathos ist es pure, harte Interessenpolitik: Deutschland braucht Einwanderung. Das ist heute so, wie es schon vor mehr als 150 Jahren war: Deutschlands Aufstieg zur führenden Industrienation wäre ohne Einwanderung nicht möglich gewesen. Aber schon damals ließ man nicht jeden ins Land, sondern: Jedem, der versprach nützlich zu sein, gab man eine Chance. So machen es Einwanderungsländer seit jeher. Die USA sind bis heute genau aus diesem Grund die weltweit kreativste Nation, der Ort, an den die besten wollen. Die kommen aber gerade nicht, wenn man den Zugang verhökert.
Es folgt der Domino-Effekt
Deutsche Grenzkontrollen können nur der Anfang sein. Danach gibt es einen Domino-Effekt, und wenn es gut läuft, steht als Ergebnis der Schutz der Grenzen Europas vor illegaler Einwanderung, bei der schon längst nicht mehr die politisch Verfolgten es hierhin schaffen. Sondern die stärksten. Das ist dann der erste Schritt.
Die nächsten sollten folgen: Deutschland – und Europa – beschließt Kontingente für geordnete Flüchtlings-Einwanderung. Kontingente, die Zahlen und Voraussetzungen festlegen, die in Einklang stehen mit der Aufnahmebereitschaft und – fähigkeit der deutschen (und europäischen) Gesellschaft. So wie es andere Einwanderungsländer es schon seit Jahrzehnten machen.
Es gibt jetzt diese Chance. Sie ist aus der Not geboren, nicht aus der Einsicht. Die Einsicht gibt es schon lange, seit Jahrzehnten schon. In Berlin sollten sie jetzt endlich diese Chance nutzen. Es ist die letzte vor der Bundestagswahl.
Man kann es übrigens auch versemmeln. Man sollte sich dann nur über nichts mehr wundern.