Kommentar - Uns droht großer Nach-Wahl-Frust - Zeit für eine revolutionäre Idee

Im neuen Bundestag werden vielleicht acht Fraktionen sitzen. Das macht eine „klassische“ Zweier-Koalition wenig wahrscheinlich. Bereits die Ampel hat gezeigt: Dreier- oder gar Viererbündnisse zwingen zu vielen Kompromissen – und frustrieren die Wähler. Es ist die Zeit, um über eine Wahlsystem-Revolution nachzudenken.

Die Stärke der bundesrepublikanischen Demokratie bestand lange Zeit in ihrer Stabilität. Drei Jahrzehnte lang regierten CDU/CSU, SPD und FDP im Bund in unterschiedlichen Konstellationen. Das Drei-Parteien-System wurde in den 1980er-Jahren durch ein Vier-Parteien-System mit zwei Lagern abgelöst: Schwarz-Gelb und Rot-Grün.

Als dann in den 2000er-Jahren die umbenannte SED sich unter neuem Namen in den Westen ausdehnte und ein Jahrzehnt später mit der AfD eine rechtsnationale-völkische Partei dazu kam, änderte sich an der parteipolitischen Statik zunächst wenig. Für Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz reichte es auf Bundesebene - rechnerisch - immer.

Zweier-Koalitionen fast unmöglich

Das könnte im neuen, am 23. Februar 2025 zu wählenden Bundestag , ganz anders aussehen. Dann sind „italienische Verhältnisse“ mit acht beziehungsweise neun Parteien nicht auszuschließen, je nachdem ob man CDU und CSU als zwei Parteien zählt oder nicht. Zweier-Koalitionen werden wahrscheinlich gar nicht mehr möglich sein.

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Es ist davon auszugehen, dass CDU/CSU, SPD, Grüne und AfD im neuen Bundestag sicher vertreten sein werden.Vier weitere Parteien könnten ebenfalls dabei sein: FDP, „Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)“ , die Linke und sogar die „Freien Wähler (FW)“ des Hubert Aiwanger.

Bis Ende Februar kann noch viel passieren

Dass FDP und BSW in manchen Umfragen aktuell unter 5 Prozent liegen, hat nicht viel zu bedeuten. Bis Ende Februar kann noch viel passieren. Linke und Freie Wähler setzen ohnehin auf die Strategie, drei Wahlkreise direkt zu gewinnen - die Linke im Osten, FW in Bayern. Drei Wahlkreissiege würden die Fünf-Prozent-Klausel aufheben.

Müssen jedoch mehr als zwei Parteien koalieren, um auf eine Kanzlermehrheit zu kommen, wird voraussichtlich eine Partei aus dem anderen „Lager“ dazu benötigt.

Gemeinsame inhaltliche Basis zu finden ist schwer

Das war ja von Anfang an das Handikap der Ampel, dass hier zwei Parteien links der Mitte - SPD und Grüne - mit der FDP eine gemeinsame inhaltliche Basis finden mussten. Das war schwerer, als die Beteiligten im ersten Überschwang des Wahlerfolges 2021 wahrhaben wollten. Letztlich ist Rot-Grün-Gelb an den inneren Widersprüchen gescheitert.

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Für die Wähler ist die Aussicht auf eine weitere Zersplitterung des Parteiensystems nicht erfreulich. Denn auch die nächste Regierung wird wohl aus Parteien bestehen, die eigentlich nicht zueinander passen. Die einzige Ausnahme wäre eine kaum wahrscheinliche bürgerliche CDU/CSU/FDP/FW-Koalition.

Individueller Wahlentscheidung liegt Kompromiss zugrunde

Für die allermeisten Bürger - ob Stamm- oder Wechselwähler - stellt sich die Lage so dar: Niemand stimmt mit „seiner Partei“ zu hundert Prozent überein. Schon die eigene Wahlentscheidung zwingt folglich zu einem Kompromiss.

Mancher entscheidet sich für die Grünen wegen deren Klimapolitik , obwohl er ihre gesellschaftspolitischen Ansichten ablehnt. Andere wählen FDP, weil ihnen solide Finanzen besonders wichtig sind, obwohl ihnen die Einstellung der Liberalen zum Datenschutz zu weit geht.

Bei Wählern kommt Frust auf

Die SPD wird vielfach wegen der Sozialpolitik gewählt, weniger wegen ihrer Außenpolitik. Von der Union wiederum versprechen sich viele Wähler eine bessere Sicherheitspolitik, obwohl sie für eine Abschaffung des Abtreibungsverbots sind, woran die CDU/CSU festhält.

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Jeder individuellen Wahlentscheidung liegt also bereits ein Kompromiss zugrunde. Die Wähler der Parteien, die nach der Wahl koalieren, müssen dann fast immer feststellen, dass „ihre“ Partei viel von dem preisgeben musste, was sie vor der Wahl gefordert hatte. Da kommt beim Wähler keine Freude auf - sondern Frust.

Zustimmung zur Ampel sank schnell

Die Enttäuschung über die Differenz zwischen dem, was die eigene Partei angeboten hat und was sie letztlich „liefert“, wird umso größer, je mehr Parteien an der Regierung beteiligt sind. Das zeigte sich schon früh bei der Ampel: die Zustimmung zu allen drei Koalitionspartner sank recht schnell.

Selbst CDU und CSU stimmen etwa in der Sozialpolitik nicht hundertprozentig überein. So gesehen macht es durchaus Sinn, selbst die klassische Zweier-Koalition unter Beteiligung der Union als Dreier-Bündnis anzusehen.

Fünf-Prozent-Klausel als Stabilitätsmechanismus

Die Enttäuschung der Wähler über die Politik der von ihnen gewählten Parteien fällt nicht vom Himmel. Dafür sorgen die Wähler schon selbst, indem sie eben vielen Parteien den Weg in den Bundestag ebnen.

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Die Fünf-Prozent-Klausel - sie gilt seit 1953 auf Bundesebene - war ein ganz wesentlicher Stabilitätsmechanismus. 1953 kamen neben CDU/CSU, SPD, FDP nur noch drei Kleinparteien ins Parlament, 1957 schaffte das nur noch eine. Danach waren die „üblichen Verdächtigen unter sich. Erst 1983 kamen die Grünen dazu, 1990 folgte die PDS.

Früher ließ sich die Bevölkerung grob in zwei Lager einteilen

In jener „guten alten Zeit“ war die deutsche Gesellschaft auch nicht so heterogen wie heute. Die Bevölkerung ließ sich politisch grob in zwei große Lager einteilen - einen christlich-konservativen und einen gewerkschaftlich-sozialdemokratischen. Dazu kam noch ein viel kleineres liberales Bürgertum.

Das ist heute völlig anders, was sich in der vielfältigeren Parteienlandschaft widerspiegelt. Bei der Europawahl im Juni erreichten - ohne Fünf-Prozent-Hürde - 15 Parteien einen Sitz, immerhin zehn kamen auf mehr als 2,5 Prozent. Politisch ist Deutschland so bunt wie nie zuvor.

Zeit für eine Wahlsystem-Revolution

Das geltende Wahlsystem sorgt dafür, dass hinreichend große Minderheiten Sitz und Stimme haben, also zu Wort kommen. Es erschwert aber die Bildung von Koalitionen mit ausreichend großer inhaltlicher Übereinstimmung. Möglichst viele Sichtweisen im Parlament vertreten zu wissen, kollidiert mit dem Wunsch nach klaren Verhältnissen.

Das ließe sich nur mit einem anderen Wahlsystem ändern. Es ist deshalb Zeit, um über eine Wahlsystem-Revolution nachzudenken: Ein Mehrheitswahlrecht, das nur "echten" Wahlkreissiegern die Tür zum Parlament öffnet, könnte für klare Verhältnisse sorgen. Das würde wenigstens den Wähler der Wahlsieger manchen Frust ersparen."

Entscheidungen hängen oft vom Wahlrecht ab

Wie viel vom Wahlrecht abhängt war in diesem Jahr bei den Parlamentswahlen in Großbritannien und Frankreich bestens zu beobachten. Labour reichten dank der britischen Variante des Mehrheitswahlrechts 33,7 Prozent der Stimmen für zwei Drittel der Sitze.

In Frankreich wiederum hätte Marine Le Pen mit ihrem „Rassemblement National“ und 33 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Sitze erreicht, wenn hier nach britischem Muster gewählt worden wäre. Ihre Kandidaten lagen nämlich in den meisten Wahlkreisen im ersten Wahlgang vorn.

In Frankreich gibt es jedoch in jenen Wahlkreisen einen zweiten Wahlgang, in denen der Wahlkreissieger weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten hat. „Sieger“ mit 23 oder 25 Prozent der Stimmen sind bei unseren französischen Nachbarn anders als auf der Insel ausgeschlossen.

Britisches Wahlrecht hat zwei Vorzüge

Das britische Wahlrecht hat zwei große Vorzüge: Es sorgt meist für klare Mehrheiten und erlaubt einen Regierungswechsel ohne Koalitioinsverhandlungen. Die Wähler des Sieger bekommen, wofür sie gestimmt haben.

Das französische System wiederum verhindert große Mehrheiten mit relativ wenigen Stimmen. Es bietet die Möglichkeit, dass im zweiten Wahlgang die Wähler der ausgeschiedenen Bewerber sich - je nach Koalitionspräferenz - einer anderen Partei zu einer stärkeren Position verhelfen. So konnten linke und bürgerliche Wähler im Juni einen Durchmarsch Le Pens verhindern.

Wolfgang Schäuble schlug das französische System für Deutschland vor

Der im Dezember 2023 verstorbene Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte das französische System ein halbes Jahr vor seinem Tod bei uns ins Gespräch gebracht. Er wollte die eine Hälfte der Abgeordneten über Listen, die andere nach französischem Vorbild in Wahlkreisen wählen lassen.

Auf diese Weise bekämen kleine Parteien deutlich weniger Sitze als heute, sofern sie keine Wahlkreise direkt gewinnen. Die Mehrheitsverhältnisse würden dadurch übersichtlicher, weil Union und SPD bei den Direktmandaten stärker abschneiden würden als andere.

Schäuble beschrieb in seinen Memoiren noch einen weiteren Vorzug: „Die Wähler könnten im zweiten Wahlgang ihre Entscheidungen auch mit Blick auf etwaige Koalitionspräferenzen treffen, sie gewännen also beträchtlich an Einfluss“.

Im Fall von Stichwahlen würden die Parteien, so Schäuble, die notwendigen Absprachen zur Bildung von Koalitionen bereits zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang treffen. Die Wähler wüssten spätestens dann, welche Koalition sie sich einhandeln könnten.

Neue Koalition könnte Wähler noch mehr enttäuschen als die Ampel

Das alles sind theoretische Überlegungen. Am 23. Februar wählen wir im Prinzip nach dem  „personalisierten Verhältniswahlrecht“. Das kann zu 9 Parteien beziehungsweise 8 Fraktionen führen und zu einer Koalition, die ihre Wähler aufgrund der unumgänglichen Kompromisse unter Umständen noch mehr enttäuschen wird als die Ampel.

Doch letzten Endes bekommen die Wähler, was sie wählen: Ein Viel-Parteien-Parlament führt zu einer Koalition, in der vieles nicht zusammenpasst - und eher nicht zu einer grundlegend anderen Politik.