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Kommentar: Unser Schweigen tötet im Meer

Crewmitglieder der Rettungsschiffe Lifeline, Sea-Watch 3 und Seefuchs protestieren gegen die Festsetzung ihrer Schiffe auf Malta (Bild: Reuters)
Crewmitglieder der Rettungsschiffe Lifeline, Sea-Watch 3 und Seefuchs protestieren gegen die Festsetzung ihrer Schiffe auf Malta (Bild: Reuters)

Es wird ein Rekordsommer. Der Hitze? Der Dürre? Nein: der Sorglosigkeit – schließlich überlassen wir das Ertrinken im Mittelmeer anderen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Der bedauernswerte Innenminister Matteo Salvini schaute am vergangenen Wochenende in seinen Kleiderschrank. Das Resultat seiner Inspektion verbreitete er sogleich auf Facebook: „Wie schade, ich habe daheim kein rotes Shirt zum Anziehen gefunden!“

Solche Probleme möchte man haben. Salvini kümmert sich eben um alles. Auf Facebook schrieb er denn auch wie ein Oberprimaner, er werde heute den Präsidenten treffen, da habe er die Freude ihm „die so vielen Sachen“ zu erklären, die er in seinem ersten Ministermonat erreicht habe, nämlich um „Versprechen einzuhalten, die Grenzen zu verteidigen, die Italiener zu verteidigen und Ordnung, Respekt und Ruhe zurück nach Italien zu bringen“. Puh, der trägt dick auf. Salvinis Worten entsprechend muss Italien kurz vor dem Zusammenbruch gestanden haben. Doch dann übernahm ER.

Gaaanz wichtig

Es ist das Vorrecht von Faschisten, sich selbst ganz wichtig zu nehmen. Ohne sie läuft nichts, auch nicht im Kleiderschrank – denn Salvinis Post auf Facebook war, auch das eine faschistische Kernkompetenz, höhnischer Natur. Der Verweis auf das fehlende rote Shirt kam wegen des Aufrufes eines Priesters.

Pfarrer Luigi Ciotti wollte an Alan Kurdi erinnern, jenen dreijährigen Jungen, der 2015 an Bord eines Flüchtlingsbootes gewesen war, welches kenterte. Er ertrank, seine Leiche wurde an Land gespült und das Foto davon eine Zeitlang Weltgewissen, aber eben nur eine Zeitlang. Zahlreiche Italiener folgten Ciottis Appell und bekannten sich auf der Straße und im Netz mit roten T-Shirts zur Solidarität mit Geflüchteten. Der Priester appellierte an Mitgefühl und Werte, an christliches Handeln – und Italiens Innenminister antwortete mit Spott.

Denn ein Spalt tut sich auf. Da sind auf der einen Seite jene, die meinen Europa verteidigen zu müssen. Leute wie Salvini reden von einer „Invasion“, die AfD in Deutschland spricht nicht anders. Und wer sind die Invasoren? Eben Menschen wie Alan Kurdi.

An dieser Stelle müssen wieder die leidigen Fakten referiert werden. Die Invasion, welche Salvini meint, sieht so aus: 16.748 Menschen versuchten in diesem ersten Halbjahr 2018 die Flucht von Libyen übers Mittelmeer nach Italien. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 85.000 Menschen gewesen; die „Invasion“ hatte sich um 85 Prozent verkleinert.

Es ist nicht so, dass die Fliehenden Angst vor Salvini hätten. In allen EU-Mittelmeerländern, von Griechenland bis Spanien, kamen rund 45.500 Menschen übers Meer geflohen. 2016 waren es weit über 200.000 gewesen.

Warum also die Hektik? Warum muss ein Bundesinnenminister Horst Seehofer unbedingt an Grenzen denken, an Zurückweisungen und Wirkmächtigkeiten? Weil Symbolik gut ankommt.

Was geht uns das an?

Dummerweise sind nicht wir, also die Wähler, Opfer dieser Politik. Wir riskieren nicht unsere Leben auf Schlauchbooten. Denn an dieser Stelle muss ein zweiter obligatorischer Verweis auf die Zahlen her: Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ertranken im ersten Halbjahr 2018 mehr als 1400 Fliehende im Mittelmeer, die meisten davon – mindestens 1074 – auf dem Weg von Libyen nach Italien. Mehr als ein Drittel aller Opfer, mindestens 557, starb allein im Juni.

Mahnwache für ertrunkene Flüchtlinge auf Malta (Bild: Reuters)
Mahnwache für ertrunkene Flüchtlinge auf Malta (Bild: Reuters)

Könnten mehr von ihnen gerettet werden? Ja, denn in den vergangenen Jahren wurde etwa ein Drittel der Geretteten von privaten Schiffen aufgenommen, welche von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gesteuert werden. Und gegen diese führt Salvini derzeit einen Kreuzzug. Kein privates Rettungsschiff darf gerade italienische Häfen anlaufen. Also haben sie Anker geworfen. Und können keine Menschen retten. Gleichzeitig soll sich die italienische Küstenwache nach Salvinis Wünschen weniger engagieren. Die Folge dieser Politik beziffert sich in der Anzahl von Wasserleichen. Parallel dazu wurden die NGO mit Lügen überzogen, es gab Anklagen. Aber jede wurde bisher verworfen, nur liest man das seltener.

Angesichts dieses Zynismus ist es an der Zeit, auch in Deutschland ein rotes Shirt anzuziehen. Wir haben keinen Salvini, wir haben aber Seehofer. Wir haben uns absurde Debatten über Grenzsicherungen geleistet, während draußen auf dem Meer Menschen sterben. Welch ein Sommer.