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Kommentar: Warum Merkel nicht weg muss

Kanzlerin Merkel steht gerade unter Druck, doch ihre Politik der Mitte ist noch lange kein Auslaufmodell (Bild: Reuters)
Kanzlerin Merkel steht gerade unter Druck, doch ihre Politik der Mitte ist noch lange kein Auslaufmodell (Bild: Reuters)

Alles hat ein Ende, auch die Kanzlerschaft Angela Merkels. Naht es? Noch allerdings wird sie dringend gebraucht.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Vorige Woche geschah seltsames vor der SPD-Parteizentrale in Berlin-Mitte. Nicht die rote Fahne wehte, sondern das blaue Emblem der Europäischen Union. Die Genossen setzten damit ein Zeichen: Geht es um Europa und die EU, stehen sie an der Seite ihrer politischen Gegnerin, nämlich der CDU und Angela Merkel.

Verrückt sind die Zeiten. Von der Schwesterpartei CSU wird die Kanzlerin angegriffen, als drohe durch sie der Untergang des Abendlandes. Das denken vielleicht einige Landsleute, nur versammelten die sich bisher nicht gerade bei der CSU. SPD, Grüne und klammheimlich selbst die FDP aber wünschen sich, dass Merkel durchhält, in diesen Tagen nicht strauchelt. Dabei ist die Botschaft der Kanzlerin in 13 langen Jahren Regentschaft nicht leicht zu fassen gewesen. Nur heute weiß man es genau.

An der Spitze scheiden sich die Geister

Heute steht und fällt mit Merkel der Gedanke der Multilateralität, der Absprachen, des Liberalismus und der internationalen Kooperation. Merkel ist der Inbegriff des Antinationalismus geworden.
Denn Nationalismus ist zumindest als Gegenpart durchaus erfolgreich geworden, jedenfalls lauter. Letzteres muss vermerkt werden, denn in den Umfragen findet sich eine echte „Merkel muss weg“-Stimmung nicht wieder. Ihre Asylpolitik wird zwar in Umfragen mehrheitlich kritisiert, aber eine Mehrheit will auch, dass sie Kanzlerin bleibt, ihre Politik ist sogar in Bayern beliebter als die des neuen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU).

Doch die Attacken nehmen zu. Denn Nationalismus, diese Formel des „XY zuerst“, findet mehr Nachahmer. US-Präsident Donald Trump steht zwar unter Dauerdruck, teilt aber auch heftig aus und verbreitet seine spaltenden Losungen weltweit; in Italien haben sich die Bürger auch mehrheitlich für eine populistische Politik entschieden, für eine Politik des Basta gegenüber etwas Diffusem, dem so genannten „Establishment“ – aber auch für eine Absage an eine gemeinsame internationale Politik.

Eine Kanzlerschaft wider die Schnappatmung

Merkels Vermächtnis ist schon jetzt das stete Plädoyer für eine Politik der Mitte und für eine Absage an Extreme. Merkel steht für Regeln, für eine Ordnung, auf die sich viele einigen können: nicht nur ein Land oder gar eine vorübergehende Wählermehrheit in einem Land (wie es bei den Trumps, Orbáns, Kurz‘ und Salvinis der Fall ist), sondern gleich mehrere Länder und ein ganzer Kontinent. Merkels Erbe ist der Blick fürs Ganze, für den europäischen Kontinent. Ihre Kontrahenten dagegen sehen nur den Splitter im Auge ihres Bruders, aber nicht den Balken in ihrem eigenen.

Die blasse Kanzlerin, die oft das genaue Wort scheute und sich stets spät festlegte, erscheint den Deutschen derzeit wie eine Rückversicherung, dass die Zeiten früher meist gute waren. Merkel führt eine Kanzlerschaft wider die Schnappatmung. Erleidet sie Schiffbruch, könnte die Parteienlandschaft derart durcheinander gewirbelt werden, dass am Ende nicht nur neue Parteien entstehen, sondern eine Politik des Chaos wie im Italien zu Anfang der Neunziger im vorigen Jahrhundert. Die brachten einen Silvio Berlusconi nach oben. Und so jemand hat uns gerade noch gefehlt.