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Kommentar: Was juckt uns das Massensterben von nebenan?

Heute beginnt eine der wichtigsten Konferenzen des Planeten: die Weltnaturkonferenz. Die was? Es geht um Biodiversität. Ist das was vom Supermarkt? Nein, eher eine Frage des Überlebens. Von uns allen. Aber es klingt noch so abstrakt wie der Klimawandel vor 20 Jahren. Entsprechend mau ist das Interesse an dieser Konferenz.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Eine Aktivistin demonstriert vor den Toren einer Konferenz über Biodiversität in Irland (Bild: REUTERS/Clodagh Kilcoyne)
Eine Aktivistin demonstriert vor den Toren einer Konferenz über Biodiversität in Irland (Bild: REUTERS/Clodagh Kilcoyne)

Wann haben Sie das letzte Mal auf dem Bürgersteig intensiv nach unten geschaut – auf der Suche nach dem Grün-„Zeug“ dort? In den Ritzen tummeln sich mehr Pflanzenarten, als man vermuten möchte. In den Städten lebt das Leben, wo es Platz findet. Das ist nicht viel. Viele Flächen sind versiegelt, doch in den Nischen lässt sich die Artenvielfalt nicht unterkriegen. Und dennoch. Alle zehn Minuten verschwindet eine Lebensart von der Erdoberfläche. Das heißt: Es wird sie nicht mehr geben. Das Leben auf der Erde schrumpft, ihm macht eine expandierende Art zu schaffen. Und das ist die unsrige.

Pflanzen und Tiere sterben um uns herum, weil wir ihnen die Lebensräume streitig machen. Untertan machen hieß das mal in der Bibel, aber damit einher kam ein „Schöpfungsauftrag“, den wir nicht wirklich erfüllt haben. Monotonie breitet sich aus. Politiker haben das Problem erkannt, daher beginnt heute im kanadischen Montreal eine Weltnaturkonferenz. Auf ihr kommen die Vertreter der Menschheit zusammen, um über einen Ausweg aus diesem Schlamassel zu beraten; aus Deutschland reist Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) an. Aber: Ein Fortschritt ist nicht zu erwarten.

Denn wir haben ein Problem mit der Wahrnehmung. Wenn irgendein Mauerblümchen in der Nähe eingeht, für immer und mit ihm alle seiner Art, juckt das unseren Alltag erstmal kaum. Wir kriegen es nicht mit. Lesen darüber, wie jetzt hier. Aber ansonsten haben wir in unserem an Problemen ja nicht armen Leben mit anderen Dingen zu schaffen. Wir spüren keine Konsequenzen, jedenfalls noch nicht. Wir gehen mit dem Rückgang der Biodiversität um wie mit dem Klimawandel vor 20 Jahren.

Da war doch was

Damals wurden Mahner und Warner noch belächelt. Oder man sprach über den Klimawandel als ein fernes Phänomen, von ein paar Südseeinseln hörten wir, von Überschwemmungen dort; aber es war weit weg. Nicht konkret genug in unserer Wahrnehmung, dabei war die Realität, wie immer, uns stets voraus. Heute fliegt uns der Klimawandel um die Ohren, und das massenhafte Sterben von Lebensarten ist nicht nur aus ethischen und moralischen Aspekten zu beklagen, sondern nagt schon jetzt an unserer Existenz.

Denn die Natur gerät zusehends in eine Schieflage. Vieles hängt mit vielem zusammen, und das Sterben einer Art bedingt andere. Schon jetzt laugen unsere Böden auch wegen der geringer werdenden Biodiversität aus, werden unfruchtbarer. Das, was wir unseren „Nachbarn“ an Leben abschnüren, nehmen wir uns langfristig selber. Es ist also nicht nur nicht ok, andere Lebensformen zu vernichten, sondern auch unklug.

Von den Folgen wollen wir nichts wissen

Noch immer leisten wir uns in Deutschland und anderswo eine konventionelle Landwirtschaft, die auf Dauer so nicht gutgehen wird. Das Leben stirbt auf dem Land, wo es keine Ritzen auf den Bürgersteigen gibt wie in der Stadt. Dort dominieren häufig monotone Flächen, auf denen nur eine Art wächst – und das war’s. Noch immer kritisieren wir Länder im globalen Süden, wenn dort Wälder abgeholzt werden; wir kaufen aber gern von ihnen Soja oder Fleisch, das von diesen neu geschaffenen Flächen stammt. Würden wir unsere Umgebung mehr schützen, käme das auch dem Kampf gegen den Klimawandel zugute, eine klassische Win-Win-Situation. Und es geht auch nicht darum, blindlings Flächen zu Naturschutzgebieten zu erklären und damit Nahrungsgrundlagen der Menschheit aufzugeben. In kleinerem Maßstab mag auch das nötig sein, aber in erster Linie hat es ein Ziel zu geben: Das Sterben aufhalten. Landwirtschaft und Biodiversität lassen sich miteinander versöhnen, und zwar mit Achtsamkeit.

Das müssen wir lernen. Vielleicht hilft ein Gedankenspiel: Wenn alle zehn Minuten eine Lebensart verschwindet, dann sollten wir uns Thanos in den Avengers-Filmen vorstellen. Der schnippte mit dem Finger, und eine Hälfte des Lebens im Universum löste sich auf. Denken wir uns das Mauerblümchen und das Insekt als Mitmensch, als alten Freund oder Nachbar. Wollen wir all das zulassen?

Im Video: Weltweites Artensterben: Tierbestände sinken extrem!