Kommentar: Was passiert mit dem Messerangriff bei Ulm?

Baden-Württemberg, Illerkirchberg: Kerzen und Blumen stehen an einem Tatort, an dem am Tag zuvor zwei Mädchen von einem Mann mit einem Messer angegriffen wurden. Eine 14-Jährige erlag am Montag ihren schweren Verletzungen. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Baden-Württemberg, Illerkirchberg: Kerzen und Blumen stehen an einem Tatort, an dem am Tag zuvor zwei Mädchen von einem Mann mit einem Messer angegriffen wurden. Eine 14-Jährige erlag am Montag ihren schweren Verletzungen. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Eine unfassbare Tat erschüttert ein Dorf: Zwei Schülerinnen werden plötzlich attackiert, eine stirbt, die andere ist schwerverletzt. Doch das sollte einen nicht nur sprachlos machen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Es ist ein Alptraum. Das Kind, die Schwester, die Freundin und Nachbarin zu verlieren. Binnen wenigen Sekunden, absurd anmutend. Auf dem Schulweg, als ein Mann auf sie zutritt, sie ersticht und in ein Haus flüchtet – als könnte er sich verstecken. Schmerzen, an die man nicht denken möchte.

Das ist passiert, und zwar am vergangenen Montag im Südwesten. Der mutmaßliche Täter, so stellte sich schnell heraus, war ein eritreischer Mann, der in Deutschland Asylantrag gestellt hatte. Und zum Schmerz ob der Tat stellt sich die Frage, was Politik damit zu tun hat.

Ein Satz bleibt. Wäre dieser Mann nicht nach Deutschland gekommen, würde die Jugendliche noch leben, läge die andere jetzt nicht im Krankenhaus. Wer von einer einstigen Gesellschaft träumt, in der nur Deutsche in langen Generationen ihre Gemeinschaften bildeten, sieht sich bestätigt: Das Unglück kommt von außen; dieses Muster kennt man von Horrorfilmen.

Und so zuckte ich zusammen, als in meiner Timeline bei Facebook die Nachricht einer anderen Messerattacke aufkam – wieder ein eritreischer Mann, wieder ein Messer, nur niedergeschossen von einer Polizistin. Erst auf dem zweiten Blick wurde klar: Es handelte sich um einen Vorfall von vor ein paar Jahren. Warum stellt das jemand so ins Netz? Gibt es eine Kette zwischen diesen beiden Taten? Reicht es, dass es sich um Eritreer handelt, um einen Zusammenhang herzustellen?

Natürlich nicht. Um da eine Bedeutung herauszulesen, müsste man alle eritreischen Männer in Deutschland erfassen und sich ihre Straftaten anschauen. Das Ergebnis wäre ernüchternd für jede Forderung nach „politischen Konsequenzen“. Aber im Zweifel machen wir einige Mitmenschen zu den „Anderen“, zu den „Ausländern“. Wir legen andere Maßstäbe an. Sind dann anders als die anderen. Und dann tun wir, als habe es in unseren früher „homogenen“ Dörfern keine Gewalttaten gegeben, keine Messerangriffe auf Jugendliche bei ihrem Weg zur Schule. Wird es leider gegeben haben.

Ab wann eine Schublade geöffnet wird

All dies löst nicht den Satz mit seinem mitschwingenden „was wäre wenn…“ auf: Wäre der Mann nicht nach Deutschland gekommen, wäre es zu dieser Wahnsinnstat nicht gekommen.

Bei den „Ausländern“ und ihrer Gewalt ziehen wir sie also zur Gruppe zusammen. Das ist einerseits wichtig, um präventiv Straftaten vorzubeugen. Und andererseits öffnen wir unsere Schubladen, um Schuldige zu haben. Wer sich indes die Kriminalitätsstatistik anschaut, sieht ein wildes Potpourri. Gewalt bis hin zu Tötung und Mord etwa ist überdurchschnittlich bei jungen Männern vertreten, die nach Deutschland geflüchtet sind – allermeistens aber geschehen diese Taten innerhalb der Gemeinschaften von Geflüchteten, was es nicht besser macht, viele Opfer sind Frauen. Daraus ergibt sich ein Handlungsauftrag, aber nicht jener, allgemein wie die AfD geflüchtete Männer als „Messermänner“ zu verletzen. Das macht man nur, wenn man eine Ausrede zur Äußerung seiner schlechten Gefühle sucht.

Denn aus der gestrigen unglaublichen Tat ergibt sich keine Struktur, die nach irgendwelchen politischen Folgen ruft.

Man kann es sich natürlich leicht machen. Julian Reichelt etwa twitterte sofort: „Unsere Regierung will es (noch) leichter machen, nach Deutschland zu kommen und illegale Einreise belohnen.“ Nun, das ist erwartbar, wenn man wie der ehemalige BILD-Chefredakteur den Hass zum Geschäftsmodell erklärt. Aber Reichelt erzählt in seinem Tweet nicht, dass die Ampelkoalition gerade den Zuzug von Fachkräften erleichtern will – darum geht es. Der mutmaßliche eritreische Täter kam nicht als Fachkraft nach Deutschland. Reichelt lebt halt von massiver Verfälschung.

Was uns wichtig ist

Soll also eine Folge der gestrigen Tat sein, dass wir das Grundrecht auf Asyl einschränken? Damit würden wir einen Grundpfeiler unserer Demokratie aufgeben, unseres Auftrags zu humanem Handeln. Das ist alles andere als supidupi und wurde jahrezehntelang von links und vor allem von rechts kaum in seiner Problemhaftigkeit wahrgenommen: Wer zu uns flüchtet, kommt mit vielen Problemen im Gepäck. Mit Gewalterfahrungen, Gewaltvorstellungen, mit Traumata. Und seien wir ehrlich: Bei Männern, schwäbischen, sächsischen wie flämischen oder eritreischen, ist Gewalt mehr ein Mittel zu vermeintlichen Problemlösungen als für Frauen. Das erfordert viel Hinschauen, viel Aufmerksamkeit, viel Arbeit. Und gerade die politisch Rechten, die nun laut werden, sind hoffentlich die ersten, die entsprechende Arbeitsprogramme mit Geflüchteten, die eben auch Geld kosten, unterstützen.

Von den Problemen der Welt können wir uns nicht abkapseln. Wer das behauptet, spinnt oder lügt. Die Konflikte anderer Länder und Kontinente werden immer zu uns kommen, und sie sind voller Gewalt. Da kann man nicht mit der Schulter zucken, sondern muss anpacken, investieren, arbeiten.

Was zu tun ist

Und das ändert nichts daran, dass die gestrige Wahnsinnstat nur traurig macht. Ein „Was wäre, wenn…“ führt nicht weiter. Würden wir uns diese Frage öfters stellen, merken wir, wie absurd sie ist. Alles an dieser Tat ist aufzuarbeiten. Das Motiv, die Umstände, was sie forcierte. Und überhaupt: Noch wissen wir nichts. Vieles kann möglich sein – dass die Herkunft überhaupt keine Rolle spielte, vielleicht Drogen oder psychische Erkrankungen dagegen schon, welche nichts mit der Flucht, deren Ursachen oder mit „kulturellen“ Gewaltvorstellungen zu tun haben.

Eine Frage zum Beispiel habe ich noch gar nicht gehört: Inwiefern könnte es sich um einen Femizid handeln? Die Tat eines Mannes gegen eine Jugendliche, weil sie weiblich war? Oder birgt sowas nicht genügend Aufregungspotenzial?

Wer sich indes weiter empören will, wird die Straftaten von geflüchteten Menschen in Deutschland weiterhin hochjazzen, eine „Struktur“ erkennen. Die Traurigkeit macht das aber nicht weg. Es erhöht auch nicht das Mitgefühl, sondern schafft nur weitere Verhärtungen. Und die führen zu Gewalt. Als ob wir davon nicht schon genug hätten.