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Kommentar: Who the fuck is Andrij Melnyk?

Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Berlin, bei einer Gedenkfeier zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von der Naziherrschaft (Bild: REUTERS/Christian Mang)
Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Berlin, bei einer Gedenkfeier zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von der Naziherrschaft (Bild: REUTERS/Christian Mang)

Kaum jemand polarisiert in diesen Tagen so sehr wie der ukrainische Botschafter. Sein Ton ist schrill. Im politischen Berlin rollt man mit den Augen. Aber die Lage seines Landes ist auch schrill. Und Andrij Melnyk hält Manchem nur den Spiegel vor.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Der Mann geht einem auf die Nerven. Kanzler Olaf Scholz vergleicht er mit einer beleidigten Leberwurst und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe seit Jahren ein „Spinnennetz der Kontakte nach Russland“ geknüpft. Harter Tobak also, den Andrij Melnyk loslässt – schließlich ist er diplomatischer Vertreter seines Landes. Und die Diplomatie kennt Höflichkeit sehr gut, auch wenn sie nicht jeden Tag zum Fünf-Uhr-Tee mit gespreiztem kleinem Finger lädt.

Neulich saß Melnyk beim „Anne Will“-Talk und fetzte sich mit Harald Welzer. Es sei einfach für den Sozialpsychologen, in seinem „Professorenzimmer zu sitzen und zu philosophieren“, legte der Ukrainer los. Und legte einen Scheit drauf: „Was sie anbieten, ist moralisch verwahrlost.“

„Verwahrlost“ – das ist eine totalitäre Sprache, die leider um sich greift. Wie oft habe ich in den vergangenen Wochen aus verschiedenen Lagern gehört, dieser oder jene sei „wohlstandsversifft“ oder „wohlstandsverwahrlost“, was wohl bedeuten soll: Uns geht es so gut, dass wir die Probleme Anderer nicht an uns heranlassen.

Melnyk legt den Finger in Wunden

Aber in der Sache hat Melnyk meist Recht.

Welzer dozierte in der Talkshow über die Notwendigkeit eines Waffenstillstands und von Friedensverhandlungen, als könne man die bloß herbeireden. Er sah eine Gewalteskalation des Krieges, die es derzeit nicht gibt. Er behauptete, die Logik des Verhandelns neben die Logik der Gewalt zu stellen - dabei forderten er und die Briefeschreiber rund um Alice Schwarzer ein Abrücken von der Gewalt; was nichts anderes heißt, als die Gewalt der Verteidigung zu lassen und sich zu ergeben. Der Wissenschaftler fabulierte von unklaren Kriegszielen, als ob es realistisch wäre, dass die Ukraine sich aufmachte und Russland erobern wollte. Und Welzer pries die Erinnerungskultur der Deutschen wie einen Exportschlager, der aber einem Osteuropäer wie Melnyk im Halse stecken bleiben muss – die erinnern sich nämlich noch sehr gut, wie die Deutschen in Osteuropa wüteten. Wie Stalins Sowjetunion drangsalierte. Wie Diktatorisches das Menschliche vertrieb. Nicht von ungefähr waren es die kleinen osteuropäischen Nachbarn, die rasch auf eine militärische Unterstützung der angegriffenen Ukrainer setzten. Sie wissen, was der Lügenverbrecher Wladimir Putin in Moskau kann und will.

Deshalb wirkte Welzer gegenüber Melnyk wohlfeil. Und Steinmeier kann sich für seine Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte nur schämen; man sollte ihn nicht mit einer Spinne vergleichen (siehe totalitäre Sprache), aber unser Bundespräsident hat keinen Grund, sich dünnhäutig zu zeigen. Und dass Scholz mit seinem Besuch-oder-nicht-Besuch-Pingpong langsam nur nervte – dafür kann Melnyk nichts.

Er vertritt ein Land, das einfach nur sein will. Das sich seit vielen Jahren auf den Weg macht, sich demokratisch zu entwickeln, sich klar am Westen orientiert, an seinen Werten. Und das dafür vom großen Bruder zurückgepfiffen wird, und zwar mit Mitteln von Mord & Totschlag.

Deshalb ist es kaum bedeutsam, welchen Ton Melnyk anschlägt. Er sieht das politische Geschehen in Deutschland durch die Brille eines bedrängten Menschen, dessen Freunde und Verwandte Schützengräben ausheben, vor Bomben fliehen und Tote beweinen. Da kann man schon etwas schrill werden und den Fünf-Uhr-Tee sausen lassen.

Das heißt nicht, dass man Melnyk in allem folgen soll. Klar, der Diplomat fordert und fordert – er sieht darin seine Aufgabe. Er kann keinen Schützengraben ausheben, sein Dienst ist gerade, für die Ukraine in Deutschland so viel wie möglich herauszuholen.

Hinhören ist kein Gehorsam

Das ist verständlich. Heißt aber nicht, dass man der Ukraine zum Beispiel gleich einen roten Teppich bis nach Brüssel ausrollt, nur weil die es wünscht. Eine EU-Mitgliedschaft ist für das Land noch in weiter Ferne. Eine Perspektive kann und soll sicherlich gegeben werden, aber die EU ist eine politische Wertegemeinschaft mit klaren Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, denen sich der ukrainische Staat noch stark annähern muss. Ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj steht gerade mutig für sein Land ein, hält couragierte und aufmunternde Reden für seine Bürger; aber hinter seiner Biografie schlummert eine Reihe von Ungereimtheiten wie obskuren Nummernkonten mit Unsummen von Geld. Da ist einiges zu klären.

Aber nicht jetzt. Jetzt gilt es, dass die Ukraine überlebt, die Menschlichkeit. Alles weitere wird dann kommen. Jedenfalls wäre Selenskyj zu Friedenszeiten kaum vorstellbar als EU-Regierungschef; es sei denn, es ändert sich eine Menge.

Und bei Melnyk entspringt manches harte Wort wohl auch seiner politischen Position, die schon vor dem Krieg nationalistisch eingefärbt war. Seine Bewunderung für den rechten Kriegsverbrecher, NS-Kollaborateur und Antisemiten Stephan Bandera stößt übel auf. Und seine Warnung, das Asow-Regiment solle nicht dämonisiert werden, stimmt. Aber von ihm hört man auch keine kritische Stimme darüber, dass sich dieses Freiwilligen-Regiment jahrelang aus Rechtsextremen gespeist hat. Nur ist es ein sehr kleiner Teil der ukrainischen Militärs und steht nicht repräsentativ für den militärischen Widerstand. Und das Asow-Regiment führt derzeit keinen Angriffskrieg, sondern verteidigt sich und die Stadt Mariupol gegen russische Aggressoren.

Auch spielt der Botschafter zuweilen mit verdeckten Karten. Die Berliner Polizei befürchtete rund um die Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung Deutschlands sowie Europas von der Naziherrschaft Konflikte zwischen Russen und Ukrainern - beide Völker stellten große Kontingente der siegreichen Roten Armee. Daher wollte die Polizei an den Gedenkorten das Zeigen von russischen und ukrainischen Fahnen verbieten und sprach anscheinend mehrfach bei der Botschaft vor, um das Anliegen zu erklären. Aus der Vertretung habe es Fragen gegeben, aber keine Kritik, heißt es bei "Spiegel Online". Doch als die Feiern kamen, twitterte Melnyk über das Fahnenverbot als einen "Schlag ins Gesicht des ukrainischen Volkes". Was angesichts des seit Wochen in Blau-Gelb getauchten Berlins eine recht farbblinde Wahrnehmung ist. Entweder war Melnyk über seinen eigenen Laden nicht informiert, oder entschied sich für Faulspiel.

Nationalismus ist nicht gesund, aber es gibt darauf ein demokratisches Recht. Darüber kann man ja mit Melnyk sprechen. Nach dem Krieg.

Bis dahin soll er uns ruhig weiternerven. Und uns den Spiegel vorhalten, der uns unsere Überheblichkeit zeigt.

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