Kommentar: Wie der Brexit einen alten Konflikt in Nordirland offenlegt

Trauernde stehen während der Trauerfeier für die getötete Journalistin Lyra McKee vor der St. Anna Kathedrale. (Liam Mcburney/PA Wire/dpa)
Trauernde stehen während der Trauerfeier für die getötete Journalistin Lyra McKee vor der St. Anna Kathedrale. (Liam Mcburney/PA Wire/dpa)

Die Gewalt war nie ganz weg – nun zeigen die Osterereignisse um eine erschossene Journalistin, dass Nordirlands Weg zum Frieden noch andauert.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Als in der vergangenen Woche eine Kugel die Journalistin Lyra McKee traf, hatte sie eine lange Strecke hinter sich, vielleicht flog sie 400 Jahre lang – so lange dauert der Konflikt in Nordirland an, zwischen nordirischen Protestanten, die loyal zu Großbritannien stehen, und nordirischen Katholiken, die sich an der Republik Irland orientieren. Beide Seiten können sich nicht einigen, wohin mit ihrem Land.

So hört man es seit Jahrzehnten. Wer in den Achtzigern aufwuchs, erinnert sich an die Dauerschleife der Radionachrichten, in denen ein immer gleich wirkender Wasserstand der Friedensverhandlungen aus Nordirland vermeldet wurde – ein Konflikt zum Weghören, wie einzementiert. Wie soll es auch anders sein, wenn es einen seit 400 Jahren andauernden Streit gibt? Im 16. Jahrhundert wurde Irland Teil der englischen Krone. Der damalige König betrieb eine Ausrichtung seiner Anglikanischen Kirche hin zum Protestantismus, während die Iren katholisch blieben. England fürchtete eine Parteinahme anderer europäischer Mächte und siedelte protestantische Engländer an, besonders im Norden Irlands.

Seitdem ist die Geschichte Nordirlands auch eine von struktureller Benachteiligung, denn die in Nordirland zur Minderheit gewordenen katholischen Iren genossen traditionell weniger Förderung durch den Staat. Es folgten massive Hungernöte im 19. Jahrhundert und Unabhängigkeitskämpfe im 20. Jahrhundert. Und Demokratie: Die Mehrheit der Bevölkerung in Nordirland entschied sich Teil Englands bleiben zu wollen.

Nie gibt es nur eine Seite der Medaille

Wie das alles hier aufgeschrieben wird, ist es aber nur ein Teil dieser Geschichte. Dazu gehört auch, dass eine Kugel nicht 400 Jahre fliegen kann. Kein Konflikt ist wie Zement. Alles ist lösbar. Und so ist Besorgnis angesichts der Gewalt in Nordirland angesagt, aber keine Verzweiflung. Denn längst zeigt die Zivilbevölkerung, dass sie nicht im Geringsten vorhat, ihr Leben militanten Idioten auf beiden Seiten zu überlassen.

Dies dokumentiert die nationale Trauer, welche der Tod von McKee auslöste. Getötet wurde sie, weil sie während Ausschreitungen in der Nähe von Polizisten stand. Die Gruppe „New IRA“ entschuldigte sich für das „Versehen“, die Kugel habe dem „Feind“ gegolten, also Polizisten. Die hatten Wohnungen in Creggan nach Waffen untersucht, einem sozial benachteiligten Viertel in Derry oder Londonderry – ersterer Name wird von Katholiken verwandt, letzterer von Protestanten. Einer Mehrheit aber dürfte solch Streit zunehmend unwichtig werden.

Es ist immer die alte Geschichte: Männer, die Hierarchie und Gewalt lieben, sehen sich rasch „provoziert“, in diesem Falle durch die Polizei. Und sie trafen stattdessen ungewollt, aber total typisch das richtige Opfer: McKee stand für das neue Nordirland. Sie wurde erst 29 Jahre alt, engagierte für die Rechte von Lesben, wollte ihre Partnerin heiraten – während homosexuelle Ehen in Nordirland immer noch nicht erlaubt sind, im Gegensatz zur Republik Irland. McKee schrieb über soziale Themen, über Depressionen und Suizide unter Jugendlichen als Spätfolgen des Bürgerkrieges, welche die traumatisierten Eltern an ihre Kinder weitergaben. McKee stand für Ausgleich und gegen Sektiererei, für die neue Generation. Daher sprühten Aktivisten „Not in my name“ auf Mauern der Stadt – „nicht in meinem Namen“. Von isolationistischen und gewaltverherrlichenden Gruppen wollen sie sich nicht vereinnahmen lassen.

Die stille Mehrheit wird laut

Und so hat der Tod Nordirland zu einem Schulterschluss veranlasst, für einen Moment. Seit 1998 herrscht mit dem so genannten Karfreitagsabkommen Friede – die Region hat davon enorm profitiert. Natürlich ist dieser brüchig, aber immer realistischer als Krieg. Zwar ist Nordirland seit zwei Jahren praktisch unregiert, weil die großen beiden Parteien auf Seiten der Katholiken und der Protestanten sich nicht auf ein Kabinett einigen können. Aber die Zustimmung dazu in der Bevölkerung schwindet. Eine Mehrheit hat sich auch gegen den Brexit entschieden.

Denn die EU ist für die Region ein Segen. Anstatt sich zu ärgern, wer wohin gehört, können die Leute unters Dach der EU. An Nordirland mit seinen Problemen dachten die englischen Politiker nicht im Geringsten, als sie das verdammte Brexit-Referendum in Gang setzten. Nun bereitet die ungelöste Frage, wie sich Nordirland zwischen Irland und Großbritannien nach einem Brexit verortet, Kopfschmerzen. Irland bleibt nämlich natürlich EU-Mitglied. Und neue Grenzen zwischen der Republik und Nordirland sind vieles, aber nicht förderlich für irgend Gutes.

Es gibt Hinweise, dass die stille Mehrheit der Bevölkerung das alte Lagerdenken satt hat. Das muss nun verklickert werden.

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