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Kommentar: Wie "Querdenken" heiße Luft produziert

Die Corona-Skeptiker erregen sich über eine angebliche Testung von Schulkindern gegen ihren Willen. (Symbolbild: Getty)
Die Corona-Skeptiker erregen sich über eine angebliche Testung von Schulkindern gegen ihren Willen. (Symbolbild: Getty)

Die Corona-Skeptiker erregen sich über eine angebliche Testung von Schulkindern gegen ihren Willen. Dabei begehen sie einen Fehler nach dem anderen – ein Lehrstück darüber, wie Normales zu einem Skandal aufgeblasen werden soll.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Die Pressemitteilung liest sich dramatisch. „Entsetzliche Ereignisse spielten sich in einer Schule in Aurich ab“, schreibt Pressesprecher Stephan Bergmann von „Querdenken 711 Stuttgart“, „bei der eine ganze Klasse ohne Ankündigung auf Corona getestet wurde. Mindestens einem Schüler wurde gegen seinen Willen immer wieder ein Teststab in den Hals eingeführt.“

Der offizielle Querdenkersprecher bezieht sich auf den 9. September, als in der ostfriesischen Stadt Mitarbeiter des Gesundheitsamts tatsächlich neun Kinder einer Schulklasse und vier Lehrer testeten. Für Bergmann war es, wie er schreibt, „traumatisierend“ – als wäre er dabei gewesen.

„Hier ist eine bestürzende Situation entstanden, nicht nur, dass das Gesundheitsamt sich an Kindern in ‚Astronautenanzügen‘ vergreift; sondern auch, dass Schulleitung und Lehrer ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen sind“, erregt er sich. Sich vergreifen, das klingt nach Missbrauch, ist also Tobak der härtesten Sorte. Darunter machen es die Querdenker in ihrem Erregungspotenzial offenbar nicht. Aber vielleicht haben sie recht?

Jedenfalls fordern sie weit gehende Konsequenzen: „Wir von QUERDENKEN-711 fordern eine umgehende Freistellung der verantwortlichen Menschen. Sowohl die betroffenen Lehrer als auch die Schulleitung, sowie die betroffenen Mitarbeiter des Gesundheitsamtes.“

Doch was ist wirklich passiert? Marschierten Astronauten ein und misshandelten Kinder?

Mal der Überlieferungskette nachspüren

Pressesprecher Bergmann gibt in der Mitteilung eine Quelle an. Sie führt zu einem Videoblogger. Der hat mit einer Mutter eines Kindes aus dieser Klasse gesprochen. Sie beschwerte sich, dass sie vorab nicht unterrichtet worden sei, und dass ihr Sohn nun Schmerzen im Rachen habe; dreimal habe das Stäbchen in den Rachen eingeführt werden müssen. Im Blog ist weiter von weinenden Kindern die Rede, und dass einige hätten aus dem Fenster fliehen wollen. Der Videoblogger ist auch mächtig erregt. Er redet von „Einmarschieren“, von „Hausarrest“ und „Rechtsstaat außer Kraft gesetzt“.

Eine Mutter, die Informationen von ihrem zehnjährigen Kind hat – diese Nachrichtenlage ist nicht gerade dicht – vor allem, wenn man wie die „Querdenker“ harte Kritik und Forderungen loslässt. Ich schrieb also Pressesprecher Bergmann, was seine Quellen für die Pressemitteilung seien. Eine Antwort erhielt ich nicht.

Also suchte ich selbst. Natürlich hatte der Videoblog in Aurich, eine nicht gerade sehr große Stadt, Wellen geschlagen. Also las ich die Artikel der „Ostfriesischen Nachrichten“ (ON) und der „Ostfriesen-Zeitung“ (OZ), das sind die Lokalzeitungen vor Ort – und nahm Kontakt auf.

Gesundheitsamt und Stadt sagen aus, eine Traumatisierung habe man nicht mitgekriegt, auch keine weinenden Kinder oder Fluchtversuche. Nun sind dies ja in der Sicht der „Querdenker“, die sich für besonders aufgeweckt halten, möglicherweise Protagonisten, die etwas zu verbergen haben.

Doch die Redakteure der ON sprachen mit vielen Beteiligten, also mit dem Kreis, der Schule, dem Gesundheitsamt und mit Richtern. Und die OZ interviewte eine Mutter aus der besagten Schulklasse. Die berichtet, sie habe mit mehreren anderen Eltern der Klasse gesprochen: Man habe nicht festgestellt, dass die Viertklässler aus ihrer seelischen Balance geschleudert worden seien. Die Gruppe sei mit ihrer Lehrerin immer gemeinsam gewesen, die Schule habe „vorbildlich“ reagiert.

Sturm im Wasserglas

Anlass des spontanen Tests war der Befund, dass ein Kind sich infiziert hatte – man wollte rasch agieren. Bis auf eine Mutter wurden auch alle Eltern vorab telefonisch informiert, auch wenn eine Einwilligung in den Test nicht einzuholen war: Ein Rachentest ist keine invasive Maßnahme und darf vom Gesundheitsamt allein realisiert werden – er stellt kein gravierendes Eingreifen dar.

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Fassen wir zusammen: „Querdenken“ klagt über schwere Verfehlungen und stützt sich dabei auf einen Videoblogger. Der stützt sich auf eine Mutter, und die stützt sich auf ihren Sohn. Die recherchierenden Redakteure der Lokalzeitungen stützen sich auf mehrere Quellen, auf deutlich mehr Quellen – und kommen zum Ergebnis, dass alles normal verlaufen sei.

Wem glauben wir? Ich glaube den Redakteuren.

Allein, dass sie sich weniger empören, macht sie unverdächtiger für eine Voreingenommenheit als die Leute von Querdenker oder diesen schwadronierenden Videoblogger mit seiner Hobbyprofessionalität. Nüchternheit ist nicht sexy, aber meist näher an der Wahrheit dran. Übrigens hatte das Topfschlagen des Bloggers die gewohnten Konsequenzen. Im Netz setzte eine Empörungswelle an, Mitarbeiter des Gesundheitsamts wurden persönlich bedroht. Das übliche Programm.

Das ist der Wahrheitsgehalt dieser Pressemitteilung von „Querdenken“. Er ist für den Papierkorb.

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