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Kommentar: Wir Deutschen haben Erdoğan verdient

Der Sultan wurde im Amt bestätigt: Recep Tayyip Erdoğan ist für weitere Jahre Präsident in der Türkei. Eine satte Mehrheit der in Deutschland Wahlberechtigten stimmte dabei für ihn. Das regt uns herrlich auf. Doch könnten wir über diesen Stinkefinger einmal nachdenken. Er hat mehr mit Deutschland als mit der Türkei zu tun.

Eine Veranstaltung von Erdogan-Anhängern in Köln im September 2018 (Bild: REUTERS/Thilo Schmuelgen)
Eine Veranstaltung von Erdogan-Anhängern in Köln im September 2018 (Bild: REUTERS/Thilo Schmuelgen)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Es wäre schon eine verzweifelt schwierige Aufgabe, hier in Deutschland einen Anhänger des türkischen Präsidenten zu finden, der auf eine zehn Generationen andauernde Familiengeschichte in Deutschland zurückschaut. Wie? Die meisten von uns wissen das eh nicht? Und es werden weniger Leute solch einen Background haben als vermutet? Nun ja, jedenfalls sind solche Erdoğan-Fans mit der Lupe zu suchen, welche keinen familiären Bezug zur Türkei haben.

67,5 Prozent der abgegebenen Stimmen in Deutschland haben für den Sultan gestimmt. Das ist ein Ausrufezeichen. Wenn man bedenkt, dass Erdoğan unter Kurden und Aleviten nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst, bedeutet dies: Zahlreiche der in Deutschland Wahlberechtigten haben ihre Stimme nicht abgegeben. Und viele andere setzten besagtes Zeichen.

Was sind die Gründe für Erdoğans Erfolg in Deutschland? Lesen Sie hier mehr dazu

Nun sieht man darüber Kopfschütteln allerorten. Klar, Erdoğan ist als Mann der politischen Verantwortung ein total fail. Er sägt an der Freiheit der Menschen, er nagt an demokratischen Elementen, er schert sich nicht um die Umwelt und um die Sicherheit seiner Bürger vor Erdbeben – und von Wirtschaft hat er nur wenig Ahnung, was ein Problem ist, denn er bildet sich wie viele Autokraten doch tatsächlich ein, er hätte sie. Das führte zu Interventionen seinerseits, die zu Inflation und Währungszerfall führten. Für sein Land ist der Mann eine Katastrophe.

Sultans süße Rosinen

Da ist es menschlich, für solch eine Politik zu stimmen, wenn ihre Folgen nicht selbst zu tragen sind. Wir alle kennen die Tendenz in uns, bestimmter aufzutreten, wenn es uns nichts kostet.

Und unser Kopfschütteln darüber fällt uns ähnlich leicht. Die sind wohl nicht demokratisch durchdrungen, unsere Mitbürger, die an der Wahl in der Türkei teilnehmen durften. Nicht reif genug für unser tolles System. Wir schauen auf sie herab und murmeln, tststs, was das nun sollte. Die ganz krassen unter uns sagen: Dann sollen sie doch nach drüben …halt, das war der Spruch in Westdeutschland zu Zeiten des Kalten Krieges, und eine Mauer haben wir nicht mehr. Er war damals falsch und erweist sich als solches auch, wenn man ihn auf Erdoğan-Wähler im Deutschland des 21. Jahrhunderts überträgt.

Denn das Ausrufezeichen, das sie setzen, gilt uns. Sie wissen, wie man uns ärgert. Uns sagt: So viel herumgenörgelt habt ihr an ihm, ihr Besserwisser, nehmt das! Und Erdoğan versteht es durchaus, den starken Aufpasser zu mimen. Er ist es nicht, aber darauf hineinzufallen ist wiederum zutiefst menschlich.

Deutschland machte und macht etwas falsch

Erdoğan erhielt in Deutschland so viele Stimmen, weil damit wie beim Zahnfleisch ein Test dokumentiert wird: Wo es ihm nicht gutgeht, färbt es sich blau. Menschen mit türkischer Familiengeschichte erinnern durch solches Votum daran, dass dieses stete Oben-Unten-Denken nervt. Dass die Herablassung ärgert. Dass es nur ungerecht ist, hin und wieder eine Loyalität beweisen zu sollen, die anderen Deutschen nicht abverlangt wird. Der Generalverdacht und der Generalwunsch, sie nicht wie selbstverständlich dazugehören zu lassen, ist nicht weg. Und daher gab es diese Antwort mit Erdoğan als Kirsche auf der Sahnetorte.

Das bewirkt natürlich nur, dass viele Deutsche sich in ihren Vorurteilen nur bestätigt sehen. Und es sagt nullkommanichts darüber aus, wer wie integriert oder inkludiert ist. Der Stinkefinger ist eine Demonstration. Und dies sollte uns zu denken geben. Denn Demokratie ist eine Angelegenheit Aller. Wer behauptet, dass sich für sie nicht ALLE zu bewegen haben, sondern nur einige Wenige, ist selbst wenig demokratisch. Und wenn, dann hat die Mehrheitsgesellschaft sich zu bewegen, nämlich auf ihre Bürger mit Wurzeln in der Türkei zu.

Dass wir also nun damit mit erhobenem Zeigefinger reagieren, wie gegenüber kleinen Kindern, ist im Schatten eines besonderen Jahrestages besonders erbärmlich: Vor genau 30 Jahren erlebte Deutschland den Brandanschlag in Solingen. Fünf türkische Mädchen und Frauen starben, weil Rechtsradikale am 29. Mai 1993 das Wohnhaus der Familie Genç angezündet hatten. Die einen erinnern das bewusster als die anderen.