Kommentar: Wir pennen auf der vierten Welle ein

Menschen stehen Mitte November in München zum Impfen an (Bild: REUTERS/Lukas Barth)
Menschen stehen Mitte November in München zum Impfen an (Bild: REUTERS/Lukas Barth)

Vielleicht ist es die Pandemiemüdigkeit: wo angesichts der grassierenden Corona-Infektionszahlen Schnelligkeit angesagt ist, lassen wir vieles passiv geschehen. Und hinterher wird das Jammern wieder groß. Vier Gründe fürs Versagen in der vierten Welle.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Man muss es ja nicht anstellen wie Philipp Amthor. Der war wirklich unterwegs wie Speedy Gonzales: Mit 120 Stundenkilometern brauste der CDU-Politiker durch eine 70er-Zone und will das Bußgeld erstmal nicht zahlen, das wolle er erstmal gerichtlich prüfen lassen; vielleicht war er in einer uns bisher unbekannten Parallelgeschwindigkeit auf Tour.

Doch eine kleine Portion Schnelligkeit könnten wir uns schon abschauen von jenem Mann, der bereits für so viel gehandelt wurde und dann über sich selbst stolperte, in seinen 29 Jahren also eine Menge aus dem Seitenfenster sah. Denn wie wir bei Corona vorgehen, gleicht dem Schlafwagen, mit dem ein Armin Laschet einst ins Kanzleramt strebte. Bekam ihm nicht gut.

Wir sind zu langsam. Diese Zeche bezahlt dann irgendjemand im Land, bis zu ihrem und seinem Leben. Muss das wirklich sein?

  • Die Alten vergessen

Aus anderen Ländern ist bekannt, dass Boosterimpfungen, also die dritte Impfdosis, helfen. Und dennoch sind zig Altenheime flächendeckend von Bewohnern bevölkert, deren zweite Impfung deutlich mehr als sechs Monate zurückliegt. Konnte man da nicht eins und eins zusammenzählen?

  • Eine lahme Stiko

Die Ständige Impfkommission (Stiko) liegt bei all ihren Entscheidungen mit denen ihrer Schwesterorganisationen in anderen Ländern überein. Nichts sah sie bisher grundlegend anders. Allerdings hat sie sich sehr viel mehr Zeit dafür genommen. Während sie noch prüfte, waren andere darin schneller. Ist das nun deutsche Gründlichkeit oder Unwilligkeit, Unfähigkeit, in bedrohlicher Lage eine Schippe draufzulegen? Bisher gibt es jedenfalls keinen Hinweis darauf, in anderen Ländern habe man nicht ausreichend geprüft – bevor geboostert wurde, bevor Kinder ab zwölf Jahren geimpft wurden, bevor Kinder darunter geimpft werden. Muss das wirklich sein?

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Die Schnelligkeit, mit der andere Länder ihren „Freedom Day“ feierten, also das vorläufige Ende der die Freiheit beschneidenden Corona-Schutzmaßnahmen, war sicherlich peinlich. Und die deutsche Micheline tat im Gegensatz gut daran, sich von solch einer Hektik nicht anstecken zu lassen; in Dänemark oder Großbritannien ist die Feierlaune auch vergangen.

  • Kaum Impfdruck

Andersrum aber sind wir immer noch viel zu gemächlich, wenn es ums Impfen geht. Es nützt ja nichts: Eine höhere Impfquote schränkt die Ausbreitung der Coronaviren stärker ein – und das ist ein sehr wirksames Instrument. Und dennoch wird auf die diverse Gruppe der Leugner, Gegner und Muffel zu wenig Druck ausgeübt. Hier geht es nicht mehr um das Recht auf uneingeschränkte Nabelschau, sondern um die Frage: Beteilige ich mich an der Rettung von Menschenleben, oder beteilige ich mich an deren Exit?

  • Politikerlimbo

Dass die deutsche Regierungspolitik derzeit in einem Schwebezustand verharrt, hilft auch nicht. Kanzler in spe Olaf Schulz schwurbelte merkelig, er finde es gut, dass jetzt über Impfpflichten diskutiert werde. Sollte sich sein Regierungsstil darin erschöpfen, alle erstmal lange palavern zu lassen, um dann einen Minimalkonsens als großen Wurf zu feiern, ist von der Ampel nicht viel bei der Coronabekämpfung zu erwarten.

Woher diese Lässigkeit kommt, erschließt sich mir nicht. Denn die Coronaviren agieren, als wären sie bei Philipp Amthor in die Fahrschule gegangen. Und wir wissen es besser: Stets hat die Wissenschaft die einzelnen Etappen der Pandemie vorhergesagt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Doch die Politik verhedderte sich in „Sachzwängen“ und verlor dabei Wesentliches aus den Augen. Das sollte sich nun ändern.

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