Kommentar: Wir werden nicht von Wissenschaftlern regiert

Forscher sitzen in Talkshows – da denkt mancher, sie hätten das Sagen. Stimmt aber nicht. Sie zeigen dort nur ihre Machtlosigkeit.

Ein Bild aus dem Kanzleramt? Nein - es stammt aus Institut für Virologie an der Uni Bonn (Bild: REUTERS/Wolfgang Rattay)
Ein Bild aus dem Kanzleramt? Nein - es stammt aus dem Institut für Virologie an der Universität Bonn (Bild: REUTERS/Wolfgang Rattay)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Heute muss die Politik mal wieder liefern. Kanzlerin Angela Merkel, die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten haben zu entscheiden: Sollen die Corona-Maßnahmen gelockert werden? Die allgemeine Müdigkeit ist mittlerweile so stark, dass irgendeine Rückkehr zur Normalität möglich gemacht werden soll. Das ist verständlich. Ob es vernünftig ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich bin zum Glück weder Wissenschaftler noch Politiker.

Jedenfalls ist die Zeit der Märchen endgültig vorbei. Wir lebten in einer Diktatur, regiert von Wissenschaftlern, heißt es hier und dort. Mal werden wir als "Schlafschafe", mal als "Herde" beschrieben – und Epidemiologen, Virologen oder Mathematiker als die bösen Hirten, welche finstere Pläne für uns schmieden. Nie war diese Geschichte falscher als heute.

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Heute demonstriert die Wissenschaft ihre Machtlosigkeit. Ihre Bedenken gegenüber einer größeren Öffnung hin zu mehr Bewegungsfreiheit hat sie vorgetragen. Immerhin droht wohl eine dritte Welle an Infektionen, und die Impfungen ähneln nicht gerade einem Massensprint.

Chaos im Kopf

Aber allgemein liegen die Nerven mittlerweile blank. Da ist es verständlich, dass die Politiker die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse und Ratschläge nicht kopieren, sondern auch nach anderen Argumenten suchen. Eine Bevölkerung muss halt von Maßnahmen, die ihre Freiheit eingrenzen, überzeugt sein. Da tut es nicht zur Sache, wie vernünftig man vorgeht. Der Mensch ist ja nur bis zu einem gewissen Grad ein Vernunftwesen. Totale Vernunft wäre grässlich.

Und ich weiß selber nicht, was jetzt getan werden sollte. Alle Baumärkte aufsperren, aber einige Zoos nicht? Ist dem Einzelhandel nicht doch zuzutrauen, dass er mit Sicherheitskonzepten seine Türen wieder öffnet? Dass wir in einem Föderalismus leben, erleichtert nicht gerade den Blick – bei all den verschiedenen Schritten, die in den jeweiligen Bundesländern beschlossen werden. Aber es ist das Wesen unserer wertvollen Demokratie: Da wird nicht von oben herab regiert, es gibt keinen "Big Brother" und auch keine "Big Sister", die „durchziehen“. Die Politik ringt im Gegenteil gerade und besonders heute um Kompromisse. Gut möglich, dass ein Murks herauskommt. Aber manchmal fährt man mit Murks am besten, nämlich auf Sicht. Die gute Nachricht ist nämlich auch, dass wir das Corona-Virus langfristig in den Griff kriegen werden. Die Frage ist nur, wie viele dies nicht mehr erleben werden.

Märchenstunde ist vorbei

Dieses Gerede von der Wissenschaftsdiktatur muss endlich aufhören. Wissenschaftler könnten rein theoretisch nichts befehlen – denn auch ihre Erkenntnisse müssen interpretiert werden. Wissenschaft selbst lebt vom Streit, von offener Debatte – sie kann nur einen Horizont abstecken. Und selbst damit macht sie sich unbeliebt: In Frankreich rühmt sich der Präsident seiner eigenen epidemiologischen Expertise, in der Schweiz fordert die Wirtschaftskommission des Nationalrats, dass die eigens von der Regierung bestallte wissenschaftliche Taskforce nicht mehr direkt mit Medien spricht – weil ihr nicht gefällt, was sie sagt. Dabei hat die Wissenschaft keine Patentlösungen parat, sie tut auch nicht so.

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Da ist es schon interessant, dass Wissenschaft derzeit so massiv angegangen wird, so viel Hass auf sie einprasselt. Kann es daran liegen, dass sich ihre schärfsten „Kritiker“ insgeheim einfache Befehle wünschen, sich nach klaren Hierarchien sehnen und daher die in sich offene Wissenschaft verdammen, weil sie dies nicht bedienen kann? Der heutige Tag wird weder mehr Klarheit noch Sicherheit bringen. Außer, dass auch heute die Sonne untergeht und morgen wieder auf. Das ist doch schon mal eine Perspektive.

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