Kommentar zu den Oscars 2020: Am Ende überraschte die Academy
Es ist soweit: Die Gewinner der Oscars 2020 stehen fest. Überraschungen blieben weitgehend aus - am Ende der Verleihung kam dafür aber die ganz große Überraschung, als "Parasite" zum besten Film gekürt wurde. Denn eigentlich hatten viele einen anderen Film in der Kategorie als Sieger erwartet.
Ein Kommentar von Carlos Corbelle
Am Ende der diesjährigen Oscar-Verleihung überraschte die Academy mit einer erfreulichen Entscheidung: Sie kürte völlig unerwartet den südkoreanischen Genre-Mix "Parasite" als besten Film und machte ihn damit zum ersten nicht-englischsprachigen Werk, das den Oscar in dieser Kategorie bekam. Insgesamt war es der vierte Oscar, den der Film an dem Abend erhielt, so dass er am Ende auch die meisten Awards der diesjährigen Verleihung mit nach Hause nahm. So ging der Preis für die beste Regie ebenfalls an den südkoreanischen Filmemacher Bong Joon Ho, der mit seinem brillanten "Parasite" den Klassenkampf mal gänzlich anders inszeniert: Komödie, Thriller und Sozial-Drama gehen in dem Film um das kreative Einnisten einer Unterschicht-Familie im schicken Haus einer Oberschicht-Familie auf eine Weise Hand in Hand, wie man es im Kino noch nicht gesehen hat. Zusätzlich durfte sich Bong Joon Ho über den Oscar für den besten internationalen Film und das beste Originaldrehbuch freuen und war damit der große Gewinner der diesjährigen Oscars.
Oscar-Abräumer: Mehr über "Parasite" erfährt man hier
Im Vorfeld war "1917" bei vielen der Favorit
Dabei hatten schon viele im Vorhinein "1917" als Favoriten der Academy ausgemacht. Letztlich erhielt das Kriegsdrama drei Preise, die berechtigt sind: für Ton, Visuelle Effekte und Kamera. Alles andere wäre eine schlechte Entscheidung der Academy gewesen. Schließlich erzählt der Film um zwei britische Soldaten, die im Ersten Weltkrieg zur Rettung einer Einheit eine wichtige Botschaft überbringen müssen, nichts, was man nicht schon etliche Male in dem Genre gesehen hätte. Zumal hier das Schlachtfeld als furchtbarer, aber auch überaus fruchtbarer Ort für Heldentum herhalten muss - und den Film damit bisweilen haarscharf am Kriegskitsch vorbeischrammen lässt.
Die Stärke von "1917" liegt vielmehr in der ambitionierten Inszenierung von Regisseur Sam Mendes - wobei auch hier Abstriche zu machen sind. Der Film besticht durch extrem lange, hervorragend umgesetzte Szenen, die so montiert sind, als sei der Film in einer einzigen, langen Einstellung gedreht worden. Das hat seine Berechtigung, wenn es darum geht, den Soldaten durch die engen, endlos scheinenden Schützengräben zu folgen und damit die räumliche Dimension erfahrbar zu machen. Oder in den quälenden Augenblicken, in denen der Zuschauer den unberechenbaren Gefahren beim Durchqueren zerbombter Landschaften ebenso ausgeliefert ist wie die Soldaten auf der Leinwand, weil man den verängstigten Helden bei jedem noch so kleinen Schritt folgen muss, ohne dass sich die Anspannung durch einen Schnitt und somit auch einen befreienden Perspektivwechsel auflöst. Die zwingende Entsprechung von Form und Inhalt hält der Film aber keineswegs durch, so dass der Eindruck einer durchgehend ohne Unterbrechung gedrehten Einstellung mit fortschreitender Handlung zunehmend zum Selbstzweck, um nicht zu sagen zur Prahlerei verkommt. Eine Auszeichnung für Regie oder als bester Film wäre demnach enttäuschend gewesen.
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Schade ist dabei allerdings, dass Quentin Tarantino in der Regie-Sparte erneut leer ausging. Dabei wäre es in dieser Kategorie endlich an der Zeit gewesen, den ebenfalls nominierten Filmemacher auszuzeichnen. Wie er in seiner Hollywood-Hommage "Once Upon a Time... in Hollywood" von einem strauchelnden Schauspiel-Star der ausgehenden 1960er und dessen treuen Stunt-Double erzählt, während er das Geschehen fortwährend um die nahende Ermordung von Sharon Tate kreisen lässt, dabei zwischen Witz, Wehmut und Wahn changiert, um Erzählkonventionen und Historie den Mittelfinger zu zeigen, ist enorm virtuos und gehört zum Besten, was Tarantino bislang hervorgebracht hat.
Der Joker hätte mehr verdient
Zu den größten Enttäuschungen der Oscars 2020 gehört die geringe Ausbeute des größten Schurken, der bei der diesjährigen Oscar-Verleihung mitmischen durfte: der Joker. Todd Philipps' Neuinterpretation des berühmten Batman-Gegners, die auf 11 Awards hoffen durfte und letztlich bloß zwei erhielt (für den besten Hauptdarsteller und die Filmmusik), ist nicht nur der kontroverseste, sondern angesichts seiner unbequemen Demontage unserer "Angry White Men"-Gegenwart auch stärkste Nominierte in der Kategorie "Bester Film". Philipps erzählt die in den 1980ern angesiedelte Origin Story des Jokers als psychologische Studie eines gescheiterten Komikers mit desolatem Geisteszustand, der sich zum irren Killer-Clown entwickelt. Und lässt sie zur Echokammer heutiger Befindlichkeiten werden: Im fiktiven Gotham wabert die Wut der sozial Abgehängten unter der Oberfläche und bricht sich auf fürchterliche Weise Bahn, weil sie letztlich lieber einem Irren folgen, als auch nur einem einzigen, weiteren Versprechen der weniger abgehängten zu lauschen.
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Zumindest wurde aber erwartungsgemäß Joaquin Phoenix' eindringliche Verkörperung des Jokers mit dem Oscar für die beste männliche Hauptrolle gewürdigt. Phoenix erhielt damit seinen ersten Oscar und ist nach Heath Ledger der zweite Star, der für die Darstellung des Batman-Bösewichts mit dem Academy Award ausgezeichnet wurde. Völlig verdient - auch wenn es schade um den ebenfalls nominierten Antonio Banderas ist, der mit seinem nuancierten Spiel in Pedro Almodóvars "Leid und Herrlichkeit" eine der besten Performances seiner bisherigen Karriere abliefert.
Happy End für Brad Pitt
Ebenso wenig überraschend ist die Auszeichnung von Renée Zellweger als beste Hauptdarstellerin für ihre Interpretation der Judy Garland im Biopic "Judy". Zellweger, die vor 16 Jahren als Nebendarstellerin in "Unterwegs nach Cold Mountain" mit dem Oscar prämiert wurde, spielt die legendäre "Zauberer von Oz"-Darstellerin in ihren letzten, von Sucht- und Geldproblemen geprägten Jahren und feiert mit der Rolle ein gelungenes Comeback. Für Laura Dern, die für ihre hervorragend gespielte Rolle der smarten und toughen Scheidungsanwältin im Ehe-Drama "Mariage Story" als beste Nebendarstellerin geehrt wurde, ist es dagegen der erste, längst überfällige Oscar ihrer Karriere.
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Und auch Brad Pitt wurde endlich für seine Schauspielkünste mit dem Oscar geehrt - für seine Rolle eines Stuntmans im Hollywood der 60er in "Once Upon a Time... in Hollywood". Eine Entscheidung, die man nur begrüßen kann und nicht gerade selbstverständlich für die Academy ist, die eher zurückhaltend angelegte Rollen wie die von Brad Pitt in Tarantinos Film nur allzu gerne übersieht. Dem lässigen Understatement, mit dem er seiner Figur nicht nur Coolness, sondern auch eine ungemein bewegende Würde verleiht, konnte aber offensichtlich auch die Academy nicht widerstehen. Und so gewinnt einer der größten Filmstars Hollywoods seinen ersten Oscar für eine Hollywood-Hommage mit dem märchenhaften Titel "Once Upon a Time... in Hollywood" - ein ganz und gar Hollywood-typisches, aber hochverdientes Happy End.
Auch ein Highlight: Brad Pitts politische Oscar-Rede
Und hier alle Gewinner der Oscar-Verleihung 2020 im Überblick:
Bester Film
Parasite
Beste Hauptdarstellerin
Renée Zellweger für “Judy”
Bester Hauptdarsteller
Joaquin Phoenix für “Joker”
Beste Nebendarstellerin
Laura Dern für “Marriage Story”
Bester Nebendarsteller
Brad Pitt für “Once Upon a Time... in Hollywood”
Beste Regie
Bong Joon Ho für “Parasite”
Bester internationaler Film
Parasite - Südkorea
Bester Animationsfilm
A Toy Story: Alles hört auf kein Kommando
Bestes Originaldrehbuch
Parasite
Bestes adaptiertes Drehbuch
Jojo Rabbit
Bester Dokumentarfilm
American Factory
Beste Kamera
1917
Bester Schnitt
Le Mans 66 – Gegen jede Chance
Beste visuelle Effekte
1917
Beste Filmmusik
Joker
Bester Song
“I'm Gonna Love Me Again” aus “Rocketman”
Bester Ton
1917
Bester Tonschnitt
Le Mans 66 – Gegen jede Chance
Bestes Szenenbild
Once Upon a Time... in Hollywood
Bestes Kostümdesign
Little Women
Bestes Make-up und Beste Frisuren
Bombshell
Bester Kurzfilm
The Neighbors' Window
Bester animierter Kurzfilm
Hair Love
Bester Dokumentar-Kurzfilm
Learning to Skateboard in a Warzone (If You're a Girl)