Konflikt an Israels Nordgrenze - Eskalation als Strategie: Zwischen Hisbollah und Israel bahnt sich ein Bodenkrieg an
Die Spannungen im Nahen Osten erreichen einen neuen Höhepunkt. Terrorismus-Spezialist Hans-Jakob Schindler analysiert die möglichen Auswirkungen der israelischen Gegenangriffe auf den Libanon und skizziert Szenarien für die Zukunft. Was macht der Iran? Wer jetzt dringend einschreiten muss.
Was sind die möglichen Auswirkungen der israelischen Angriffe auf den Libanon und wie könnte sich die Situation weiter entwickeln?
Die aktuellen Angriffe Israels auf Stellungen der Hisbollah im Libanon bedeuten eine weitere Eskalation der Situation in der Region. Das israelische Kabinett beschloss Mitte September, dass die Situation an der Nordgrenze des Landes nun eines der Hauptziele ihres Vorgehens sein wird. Damit reagiert die israelische Regierung auf die seit Oktober 2023 andauernden Angriffe der Hisbollah auf Israel, welches mehrere Zehntausend Israelis im Norden des Landes dazu zwangen, ihre Häuser zu erlassen.
Mit diesen Angriffen will die Hisbollah nicht nur ihre Solidarität mit der Hamas zur Schau stellen und sich weiter als zentraler Partner des Iran in der sogenannten „Achse des Widerstandes“ präsentieren. Ein andauernder Konflikt, ohne dass dieser in eine großangelegte Konfrontation mit Israel abrutscht, ist auch innenpolitisch für die Hisbollah von Vorteil. Er lenkt von der Verantwortung der Terrorgruppe für die schon seit einigen Jahren andauernde politische und ökonomische Stagnation des Libanons ab. Daher ist es im Interesse der Hisbollah die Konfrontation mit Israel fortzuführen.
Weiterhin scheinen aber weder die Hisbollah noch der Iran an der Ausweitung des Konfliktes in einen regionalen Krieg interessiert zu sein. In der aktuellen Situation ist jedoch die Eskalationsspirale nur schwer zu stoppen.
In dieser Woche erklärte der israelische Generalstabschef Halewi vor Soldaten, dass man auch eine mögliche Invasion des Libanon vorbereite. Obwohl mit einer Invasion nicht notwendigerweise eine Ausweitung des Konfliktes zu erwarten ist, steigt die Gefahr einer Involvierung des Irans in den Konflikt. Diese wird wahrscheinlicher, sollte der Bestand der Hisbollah insgesamt gefährdet sein.
Während das iranische Regime eine wesentliche Schwächung der Hamas hinnehmen wird, ist dies bei der Hisbollah nicht der Fall. Die Terrororganisation bleibt das Kernelement des durch den Iran aufgebauten Netzwerkes von regionalen Ablegern. Daher ist das Überleben der Hisbollah von strategischer Bedeutung für den Iran.
Wie rechtfertigt Israels Premierminister Benjamin Netanjahu die Angriffe und welche Strategie verfolgt Israel in diesem Konflikt?
Premierminister Netanyahu und die israelische Regierung erklärten, dass mit diesen Angriffen die Möglichkeiten der Hisbollah den Norden Israels zu bedrohen zerstört werden sollen. Innerhalb der Regierung gibt es jedoch schon seit Monaten eine Fraktion, welche argumentiert, dass in der aktuellen Situation eine direkte Auseinandersetzung mit der Hisbollah, welche über gegenseitige Luftschläge hinausgeht, unvermeidlich sei.
Insbesondere Verteidigungsminister Gallant vertritt diese Position schon seit Monaten immer wieder. Nach Medienberichten erklärten israelische Regierungsbeamte, dass man aktuell eine Strategie der Eskalation zur Deeskalation betreibe. Ziel sei es durch massive Angriffe auf Hisbollah-Stellungen die Organisation dazu zu zwingen, ihre Kämpfer und Raketenabschussvorrichtungen von der israelischen Grenze weg Richtung Norden zu verlegen. Damit wären die Möglichkeiten der Hisbollah, Nord- und Zentralisrael mit Raketen, Drohnen und Artillerie anzugreifen wesentlich reduziert.
Auch grenzübergreifende Kommandooperationen wären mit einem wesentlich höheren Aufwand und Risiko für die Hisbollah verbunden. Neben dem Angriff auf Abschussvorrichtungen für Raketen, sowie Munitionslager scheint Israel schon seit einigen Monaten zu versuchen, die mittlere und obere Kommandoebene der Hisbollah zu stören.
Immer wieder ist es Israel gelungen, durch gezielte Luftschläge wichtige Kommandeure der Hisbollah wie Fuad Shukr, Ibrahim Aqil oder Muhammad Hussein Srour, den Kommandeur der Hisbollah Raketeneinheiten auszuschalten. In Kombination mit der maßgeblichen Störung der Hisbollah Kommunikationsstruktur durch den Angriff auf die durch die Hisbollah benutzen Pagers und Funkgeräte vor einigen Tagen wurde eine maßgebliche Schwächung der operativen Bereitschaft der Terrorgruppe erreicht.
Dennoch besitzt die Organisation weiterhin über mehrere Zehntausend, zum Teil durch den Einsatz im syrischen Bürgerkrieg kampferfahren, Kämpfer sowie über eine beachtliche Anzahl von Raketen und Drohnen, welche weiterhin eine Bedrohung Israels darstellen. Daher ist davon auszugehen, dass eine militärischer Erfolg Israels Zeit in Anspruch nehmen und mit Verlusten verbunden sein wird.
Wie könnte die libanesische Gemeinschaft in Deutschland auf die aktuellen Ereignisse reagieren und könnten weitere Demonstrationen erwartet werden?
Die Hisbollah verfügt in Deutschland über ein beachtliches Netzwerk an Sympathisanten. Dies wurde immer wieder bei den bis 2020 jährlich stattfindenden Al-Quds-Demonstration in Berlin deutlich. Auch bei den weiterhin regelmäßig stattfindenden Solidaritätsveranstaltungen und Märschen im Zuge des Gazakrieges zeigen sich immer wieder auch Sympathisanten der Terrorgruppe.
Es ist aktuell nicht davon auszugehen, dass der Konflikt im Libanon in ähnlicher Weise die extremistisch-Islamistische Szene in Deutschland motivieren wird, wie dies bei dem Konflikt in Gaza der Fall ist. Auch in der Vergangenheit gab es bei Angriffen Israels auf die Hisbollah Solidaritätsbekundungen in Deutschland. Diese erreichten jedoch nicht die Größe der nach dem pogromartigen Angriff der Hamas auf Israel organisierten Veranstaltungen.
Dennoch trägt auch die Eskalation im Libanon dazu bei, dass die Gefahr von islamistischen Gewalttaten in Deutschland weiterhin auf einem relativ hohen Niveau bleiben wird. Dies wird auch durch andere Terrorgruppen ausgenutzt werden.
Das Terrornetzwerk Islamischer Staat (IS) erklärte den Anschlag in Solingen Ende September auch mit der Situation in Gaza, obwohl vor 2023 diese Thematik in der IS-Propaganda kaum eine Rolle spielte. Daher ist davon auszugehen, dass auch diese Eskalation in die Propaganda des Terrornetzwerks aufgenommen wird.
Weiterhin ist die Gefahr von Terroranschlägen auf jüdische und israelische Einrichtungen in Europa und Deutschland durch mit dem Iran verbundenen Netzwerken aktuell hoch. Das iranische Regime hatte angekündigt, dass es auf die Tötung des ehemaligen Hama-Chefs Ismail Haniyeh in Teheran im Juli reagieren wird. Eine solche Reaktion kann auch Anschläge im Ausland umfassen.
Eine Eskalation zwischen Israel und dem wichtigsten regionalen Statthalter des Iran, der Hisbollah erhöht diese Gefahr. Auch in der Vergangenheit waren Hisbollah-Attentäter immer wieder in durch den Iran geplanten Anschläge involviert, wie zum Beispiel bei der Ermordung iranisch-kurdischer Oppositioneller in einem Restaurant in Berlin 1992, beim Anschlag auf jüdische Einrichtungen in Argentinien 1994 und der Ermordung israelischer Touristen in Bulgarien 2012.
Wie könnten Verhandlungen oder Deeskalationsmaßnahmen aussehen, um den aktuellen Konflikt zu lösen?
Seit Monaten bemühen sich Frankreich, die Vereinigten Staaten und einige arabische Regierungen, inklusive Saudi-Arabien, die Situation zu beruhigen. Grundlage dieser Bemühungen ist die Resolution 1701 des Sicherheitsrates der UNO von 2006. Diese Resolution wurde als Reaktion auf den letzten Krieg zwischen Hisbollah und Israel erlassen und sieht als ein Kernelement vor, dass die Terrororganisation ihre Truppen hinter den Litani Fluss im Süden von Libanon zurückzieht und die dadurch entstandene Pufferzone zu Israel durch libanesische Sicherheitskräfte gesichert wird. Die United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) soll die Umsetzung überwachen.
Hisbollah hat sich dieser Forderung des Sicherheitsrates nie gebeugt und ist in den letzten Jahren immer näher an die israelische Grenze herangerückt. Im Sommer 2023 führte die Hisbollah in diesem Gebiet nicht nur Militärmanöver durch, welche einen Angriff auf Israel simulierten, sondern versuchte auch in Unmittelbarer Nähe der Grenze Stellungen zu errichten.
Daher scheint es in der aktuellen Situation, in welcher Hisbollah-Chef Nasrallah Vergeltung für den Angriff auf die Kommunikationsinfrastruktur und die gezielten Angriffe auf Kommandoebene der Gruppe angekündigt hat, unwahrscheinlich, dass die Terrorgruppe diesen Forderungen nachkommen wird.
Mittelfristig denkbar wären temporäre Waffenruhen, wie auch durch die Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland, der Europäischen Union und einer ganzen Anzahl weiterer Staaten aktuell vorgeschlagen. Kurzfristig scheinen jedoch weder die Hisbollah noch Israel an einem, wenn auch temporären, Waffenstillstand interessiert.
Wie hat die Hisbollah auf die israelischen Angriffe reagiert und welche Auswirkungen haben ihre Gegenangriffe auf Israel gehabt?
Wie erwartet reagiert Hisbollah auf die Angriffe Israels mit Angriffen durch Artillerie, Raketen und Drohnen. Dabei scheint die Terrorgruppe zu versuchen, diese Angriffe auf weitere Teile Israels auszudehnen. Es gab auch schon einen Versuch, mit einer Rakete Ziele in Tel Aviv anzugreifen. Bisher war die israelische Luftabwehr in der Lage, solche über längere Distanzen geführten Angriffe erfolgreich abzuwehren.
Aktuell sind die Fähigkeiten der Hisbollah auf israelische Angriffe mit einem großangelegten Luftangriff zu reagieren durch die Störung der Kommunikations- und Kommandoinfrastruktur gehemmt. Sollte Israel jedoch eine Bodenoffensive starten, werden die israelischen Truppen, ähnlich wie aktuell in Gaza, mit der Guerillataktik der Hisbollah umgehen müssen.
In einer direkten konventionellen militärischen Auseinandersetzung können die Hisbollah-Kämpfer gegen, die gut ausgebildete und besser ausgerüstete israelische Armee nicht bestehen. Wie sich jedoch bei der Invasion des Libanon durch Israel in den 1980iger Jahren und 2006 gezeigt hat, können solche Guerillaangriffe mittel- und langfristig zu einem politischen Problem für Israel werden und einen Rückzug erforderlich machen.
In Israel haben diese Gegenschläge der Hisbollah eher zu einer Verhärtung der Situation beigetragen. Nicht nur die israelische Regierung, sondern auch weite Teile der Bevölkerung Israels scheinen diese Gegenschläge als eine weitere Begründung, warum in der aktuellen Situation eine erweiterte Konfrontation mit der Hisbollah unvermeidlich ist, zu interpretieren.
Daher ist aktuell nicht davon auszugehen, dass sich in Israel eine politisch relevante politische Opposition gegen eine temporäre Intensivierung des Konflikts mit der Hisbollah formieren wird. Damit sind die Chancen, kurzfristig eine Deeskalation zu erreichen nicht sehr hoch.
Welche Rolle spielen internationale Akteure wie die UNO in diesem Konflikt und wie könnten sie zur Lösung beitragen?
Internationale Akteure spielen bei Vermittlungsversuchen im aktuellen Konflikt eine zentrale Rolle. Sowohl die Vereinigten Staaten, Frankreich, aber auch arabische Staaten versuchen im Moment sowohl auf Hisbollah als auch auf Israel einzuwirken, um den Konflikt zu beruhigen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Irans. Das iranische Regime hat ausreichend Einfluss auf Hisbollah, um die Terrorgruppe an den Verhandlungstisch zu bringen. Hisbollah ist in wesentlichen Aspekten von der Unterstützung des Irans abhängig und Iran braucht eine mehr oder weniger operativ intakte Hisbollah als Kernelement seiner regionalen Strategie. Daher sind neben Gesprächen mit Israel und Hisbollah auch indirekte oder direkte Verhandlungen mit dem Iran notwendig.
Die libanesische Regierung wird bei den aktuellen Verhandlungen inhaltlich keine zentrale Rolle spielen. Hisbollah hat in den letzten Jahrzehnten den libanesischen Staat derart politisch, sozial und militärisch durchdrungen, dass die Regierung des Libanon nicht in der Lage ist, die Hisbollah zu kontrollieren oder die Terrorgruppe zu Zugeständnissen zu zwingen.
Sie stellt zwar als Mittelsmann die Kommunikation zwischen Hisbollah und den internationalen Vermittlern dar, hat jedoch keine eigenen Möglichkeiten, den Verhandlungsprozess direkt zu beeinflussen.
Die UNO wird im Verhandlungsprozess mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kaum eine inhaltliche Rolle spielen. UNIFIL hat im Libanon nur ein sehr schwaches Mandat und ist seit der Etablierung der Mission 1978 nur damit beauftragt, die Situation zu beobachten und an den UNO-Sicherheitsrat zu berichten.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass aufgrund dieses erneuten Konfliktes zwischen Israel und der Hisbollah dieses Mandat angepasst wird. Daher wird die UNIFIL mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei einer erneuten Beruhigung der Situation lediglich mit der Beobachtung der Umsetzung der Verhandlungsergebnisse beauftragt werden, ohne in der Lage zu sein, die Umsetzung aktiv zu begleiten.