Kopfnicksyndrom bleibt mysteriös

Ugandas Geister der Vergangenheit

Fast ein Jahr ist seit dem größeren Ausbruch des Kopfnicksyndroms in Uganda vergangen. Aber Forscher tappen bei der Suche nach der Ursache im Dunkeln. Dorfbewohner geben Geistern der Vergangenheit die Schuld. 



"So viele Menschen sind qualvoll ums Leben gekommen, und jetzt sind ihre Geister zurückgekehrt, um uns zu töten." Für Joe Otto aus dem Ort Tumangu in Nord-Uganda gibt es nur eine Erklärung für das mysteriöse Kopfnicksyndrom, das Tausende Kinder in seiner Heimatregion befallen hat: Die Opfer der blutrünstigen "Widerstandsarmee des Herrn" (LRA) und ihres grausamen Anführers Joseph Kony üben Rache für das Leid, das ihnen widerfahren ist. 

Gesundheitsexperten wollen an diese These nicht glauben. Allerdings ist es ihnen auch nicht gelungen, der Krankheit wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. "Es gibt bisher keinen Durchbruch bei der Erforschung der Krankheitsursache, wir kennen ihre Pathogenese nicht", sagt der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Uganda, Joaquim Sekewa. "Deshalb können wir uns derzeit nur auf die Behandlung der Symptome konzentrieren." 

Diese reichen von Epilepsie-ähnlichen Anfällen mit heftigem und unkontrolliertem Kopfnicken über Händezittern und Schwächegefühl bis hin zu geistiger Unterentwicklung. Betroffen sind Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 18 Jahren. 

Hunderte sind bereits gestorben
Die Regierung in Kampala spricht von 3200 Fällen, überwiegend im Distrikt Kitgum. Unabhängige Hilfsorganisationen berichten hingegen von über 5000 erkrankten Kindern. Hunderte sind bereits gestorben, seit das seltsame Syndrom 2008 erstmals auftauchte. Anfang 2012 nahmen die Fälle zu, und das Syndrom machte weltweit Schlagzeilen. 

In Afrika ist vieles anders. Auf dem Kontinent geschehen Dinge, die die Vorstellungskraft der meisten Menschen in den westlichen Industrieländern übersteigen. Voodoo-Rituale, Geisterkult und Hexerei gehören vielerorts zum Alltag. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass so mancher Ugander die Gründe für das Syndrom im Überirdischen suchen. "Viele Menschen sind in diesem Dorf ermordet und nie beerdigt worden. Die Rebellen hackten Köpfe ab und schnitten schwangeren Frauen den Bauch auf", erinnert sich Otto, ein ehemaliger Lehrer. 

"Die Krankheit hat mit dem Bürgerkrieg zu tun. Die Geister der Toten sprechen durch die Kinder, die manchmal schreien: "Töte mich nicht!" oder "Entführt mich bitte nicht!"", erzählt der 54-Jährige. Andere Dorfbewohner sagen, dass die erkrankten Kinder plötzlich Kriegsgesänge anstimmten oder Worte benutzten, die mit der LRA in Zusammenhang stehen. 

Konys Rebellen waren Anhänger einer von afrikanischem Mystizismus verbrämten Ideologie. Ohne Skrupel wüteten sie bis 2006 auf brutalste Weise im Norden Ugandas. Da waren Zehntausende Menschen dem Gemetzel zum Opfer gefallen, unzählige Kinder entführt und zu Soldaten oder Sexsklaven gemacht worden. Heute verstecken sich die Überbleibsel der LRA samt ihres brutalen Anführers vermutlich im Busch der Zentralafrikanischen Republik. 

Da ein Unglück aber selten allein kommt, sind vor allem die vom Kopfnicksyndrom befallenen Mädchen einem weiteren, schlicht unfassbaren Horror ausgesetzt: In ihrem hilflosen Zustand werden sie sexuell missbraucht und vergewaltigt. An den Namen des Peinigers können sie sich wegen ihres geistigen Zustands später nicht erinnern. 

"Die Eingrenzung des Missbrauchs dieser Kinder ist eine große Herausforderung für uns", erklärt Gesundheitsministerin Christine Ondoa der Nachrichtenagentur dpa. "Wir tun unser Bestes, um die Situation in den Griff zu bekommen." 

Die Krankenschwester Josephine Laboro, die viele der Vergewaltigten behandelt hat, berichtet auch von Schwangerschaften der jungen Mädchen. Wer die Väter sind, ist unklar. Laboro arbeitet in Pajimo-Gesundheitszentrum, wo 300 Patienten mit dem Kopfnicksyndrom behandelt werden. 

Unterdessen versuchen die Behörden fieberhaft, dem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Mehrere mögliche Täter wurden bereits festgenommen. Zudem sind Kindertagesstätten geplant, in denen die Erkrankten sicher sind, während die Eltern ihrer Arbeit nachgehen. Denn bisher galt es als einzige Alternative, die Kinder entweder im Haus einzuschließen oder im Garten an einen Baum zu binden, sagen Beobachter. Bleibt zu hoffen, dass Experten irgendwann eine wissenschaftliche Erklärung für das Kopfnicksyndrom finden - und die Geister Uganda ein für alle Mal verlassen können.

dpa