Krankenkassen bemängeln Kostenschub bei Krebsmedikamenten

Die Kosten für Krebsmedikamente steigen, doch der Nutzen bleibt umstritten. Die Krankenkassen fordern daher eine Neubewertung des Mehrwerts. Foto: Patrick Pleul/dpa
Die Kosten für Krebsmedikamente steigen, doch der Nutzen bleibt umstritten. Die Krankenkassen fordern daher eine Neubewertung des Mehrwerts. Foto: Patrick Pleul/dpa

Es ist eine ethisch heikle Frage: Was ist es wert, wenn die Medizin einem Todkranken Hoffnung auf wenige Monate längeres Leben macht - aber für einen hohen Preis und mit großen Nebenwirkungen?

Berlin (dpa) - Angesichts immer höherer Kosten sollen Krebsmedikamente nach dem Willen des führenden Gremiums im Gesundheitswesen künftig verstärkt auf den Prüfstand.

Die Mittel brächten den Patienten oft nur wenig mehr Lebenszeit, hätten aber oft starke Nebenwirkungen und seien extrem teuer, sagte der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Die Pharmabranche warf Hecken Zynismus vor.

Vergangenes Jahr stiegen die Kosten der Kassen im Arzneibereich um mehr als 3 Prozent auf 38,5 Milliarden Euro. Im Bundesausschuss entscheiden Spitzenvertreter der Krankenkassen, Ärzte und Kliniken über die medizinische Versorgung in Deutschland. Anhand von Studien bewertet das Gremium seit 2011, inwiefern neue Arzneimittel mehr nutzen als ältere. In seiner letzten Sitzung des Jahres an diesem Donnerstag fallen die nächsten Beschlüsse zu einzelnen Mittel. Anhand der Bewertung handeln Kassen und Hersteller die Preise aus.

«Nach wie vor werden Onkologika überdurchschnittlich gut bewertet», sagte Hecken. Nur jedem fünften der 88 insgesamt bewerteten Krebsmittel sei kein Zusatznutzen beschieden worden. «Aber: Die meisten dieser Therapien bringen den Patienten lediglich ein längeres Leben von im Schnitt drei bis sechs Monaten», so Hecken. «Nur sehr wenige ermöglichen den Patienten eine bessere Lebensqualität.» Viele Mittel kombinierten Chemotherapien - Nebenwirkungen stiegen stark.

Der Pharmaverband vfa kritisierte Hecken scharf. Seine Aussage sei zynisch, sagte Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. «Sie gehen an der Lebenswirklichkeit und dem Schicksal von Krebspatienten vorbei. Die Frage, welchen Wert das Überleben hat, ist eine höchstpersönliche Entscheidung und nicht die eines Verwaltungsgremiums.»

Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz betonte, nur die Betroffenen könnten beurteilen, ob sie mehr Lebenszeit trotz Nebenwirkungen wollten. «Das kann für den einen sein, die Silberhochzeit zu erleben, für den anderen, die Geburt seines Kindes. Schließlich entscheidet ein gesunder Mensch über Lebensqualität ganz anders, als ein Schwerstkranker», sagte Vorstand Eugen Brysch. Dabei komme es auf bestmögliche Aufklärung durch den Arzt an, der nicht von Versprechungen der Pharmaindustrie getrieben werde dürfe.

Immer öfter kommen laut Hecken biologische Arzneimittel zum Einsatz, die gezielt am Tumor ansetzen, aber extrem teuer seien. Pro Jahr und Patient lägen die Kosten zu Beginn im Schnitt bei 100 000 Euro - «mit steigender Tendenz». Noch größer seien Kostensteigerung bei Kombinationstherapien. So seien die Arzneikosten bei Hautkrebs mit Metastasen auf rund 200 000 Euro pro Patient und Jahr gestiegen.

Auch der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen forderte die Politik auf, Lücken bei der Bewertung des Mehrwerts der Mittel zu schließen. Vizechef Johann-Magnus von Stackelberg kritisierte: «Insbesondere Arzneimittel gegen Krebs werden immer öfter ohne finale klinische Prüfungen zugelassen.» Hersteller lieferten auch später oft keine aussagekräftige Daten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis nach.

Hecken dringt auf mehrere Änderungen: «In Zukunft müssen neue Wirkstoffe schlechter bewertet werden, wenn keine Angaben zur Lebensqualität vorliegen.» Preisverhandlungen sollten zudem für ähnliche Medikamente gegen eine Erkrankung ermöglicht werden - statt nur für einzelne Mittel. Sonst solle es pauschale Abschläge geben.

Gerade bei biologischen Arzneimitteln forderte Hecken aber «bessere Einspareffekte». Für diese mit Gentechnik in lebenden Zellen hergestellten Biologika gibt es oft günstigere Nachfolge-Präparate, sogenannte Biosimilars. Ihr Preisabstand zum Original betrage heute höchstens 20 Prozent. Er solle auf bis zu 40 Prozent wachsen. Ärzte blieben zudem zu oft lieber beim teuren Original, obwohl ein Biosimilar ebenso wirke. Die Arzneimittelkommission der Ärzte hatte dies kürzlich mit «Desinformation auf Fachkongressen» begründet.

Zu wenig Klarheit über den Mehrwert gibt es laut Hecken und Stackelberg auch bei Mitteln gegen seltene Krankheiten, Orphan Drugs. Um auch solche Mittel schnell an die Patienten zu bringen, gilt ein Zusatznutzen bis zu einem Umsatz von 50 Millionen Euro auch ohne Prüfung als belegt. «Für Arzt und Patient birgt das die Gefahr einer Fehlinformation», sagte Stackelberg. Sie wüssten nicht, ob die Mittel mehr brächten. Hecken forderte «strengere Bewertungsstufen».

Am Donnerstag will der Bundesausschuss etwa über ein solches Mittel mit Kosten von rund 750 000 Euro pro Patient und Jahr entscheiden. Es handelt sich um das Mittel Brineura gegen Kinderdemenz, bei der kleine Kinder Sehkraft, dann kognitiven und motorische Fähigkeiten verlieren und oft im Grundschulalter sterben.

Preisbremse bei Arzneimitteln

Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) hat ein wesentliches Ziel erreicht. «Die Kostenersparnis über das AMNOG beträgt derzeit 1,8 Milliarden Euro im Jahr mit stark aufwachsender Tendenz», sagt der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken. Das Gremium bewertet nach den Regeln des Gesetzes neue Medikamente - nur was wirklich mehr bringt, soll auch mehr kosten. Dafür sollen - entsprechend der Bewertung - Preisverhandlungen zwischen Kassen und Hersteller sorgen.

Der Spareffekt lag 2016 noch bei 1,3 Milliarden, 2018 sollen es über 2 Milliarden Euro sein. 243 neue Wirkstoffe seien bewertet worden - bei satten 44 Prozent dieser neuen Medikamente ging der Daumen runter. Sie erhielten die Bewertung: kein Zusatznutzen. Schlechtere Versorgung werde nicht mehr befürchtet, sagt Hecken.

Beim Kassen-Spitzenverband wertet man das AMNOG als «echte Zeitenwende». Vorbei seien die Zeiten, in denen die Industrie hohe Erlöse erzielt habe, egal ob neue Mittel mehr brächten, sagt Vize-Chef Johann-Magnus von Stackelberg. Doch aus Kassensicht gibt es Schwachstellen.

So könnten die Hersteller ein Jahr den Preis selbst bestimmen, bevor die ausgehandelten Preise greifen. «Diese Regelungslücke ist doch geradezu eine Einladung an die Hersteller, im ersten Jahr überzogen zu kalkulieren», sagt Stackelberg. Um «Mondpreise» einzufangen, müsse der verhandelte Preis rückwirkend ab dem ersten Tag der Zulassung gelten.

Nötig sei zudem ein Arztinformationssystem - Ärzte sollten so besser industrieunabhängige Informationen über den zusätzlichen Nutzen von Arzneimitteln und deren Preise erhalten. Die bisher beim Bundesausschuss vorhandenen Informationen müssten im Praxisalltag ankommen. «Wenn Ärzte wissen, ob ein neues Arzneimittel einen Zusatznutzen hat, wie groß dieser ist und welche Patientengruppen davon profitieren, können sie kranke Menschen auch besser versorgen.»