Der Siebenfach-Mord von Sittensen (Teil 2) - Sieben Tote im China-Restaurant - dann ändert eine Routine-Kontrolle alles

In einem Restaurant in Sittensen kam es 2007 zu einem Siebenfach-Mord.<span class="copyright">Imago</span>
In einem Restaurant in Sittensen kam es 2007 zu einem Siebenfach-Mord.Imago

Sieben Menschen sterben 2007 in einem China-Restaurant in Sittensen. Die Opfer sind grausam zugerichtet. Eine Routinekontrolle bringt plötzlich Bewegung in einen Fall, der Deutschland in Atem hält.

Im Februar 2007 werden sieben Menschen brutal hingerichtet. Sie alle arbeiteten im Restaurant „Lin Yue“ in der niedersächsischen Gemeinde Sittensen.

Andreas Schramm, Erster Kriminalhauptkommissar bei der Polizei Rotenburg und Andreas Tschirner, Leitender Kriminaldirektor beim Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen, waren damals an den Ermittlungen beteiligt.

Sie erzählen im Gespräch mit FOCUS online vom Fund der Leichen und von den ersten Ansätzen, die damals verfolgt wurden ( Teil 1 ). Bewegung kommt in den Fall, als sich Beamte der Autobahnpolizei Alhorn melden.

Der Anruf, der alles ändert

Schramm erinnert sich noch genau an den Anruf. „Es war purer Zufall“, sagt er. Beamten der Autobahnpolizei sind zwei asiatisch aussehende Männer in einem dunkelblauen VW Polo aufgefallen. Sie halten sie an. Die Männer sind 29 und 31 Jahre alt.

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Der eine hat keinen Führerschein, Kokain und mehrere Tausend Euro Bargeld in der Jackentasche. Der andere hat ebenfalls die Taschen voll mit Geldscheinen. Im Auto befindet sich außerdem ein Zettel mit Notizen, er liegt in der Mittelkonsole.

Als die Auto-Insassen Wertsachen aus ihrem Wagen holen dürfen, während der umgeparkt werden soll, passiert etwas Seltsames. Einer der Männer schnappt sich den Notizzettel und knüllt ihn zusammen. Das alles steht im Urteil des Landgerichts Stade. Die Autobahnpolizisten denken sich zunächst nichts dabei.

Doch das kleine Stück Papier ist viel wichtiger, als es zunächst scheint. „Da stand 'Zittensen' und die Adresse des China-Restaurants drauf, außerdem eine Handynummer, die einem Mitarbeiter der Gaststätte gehörte“, sagt Schramm.

Im Wagen liegt eine Skizze des China-Restaurants

Zu sehen ist auch eine Skizze, mit der erst mal keiner der Ermittler etwas anfangen kann. Später stellt sich heraus: Es sind Umrisse des China-Restaurants, in dem die Morde stattfanden, eine Art Lageplan.

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Die Männer, die im VW Polo unterwegs waren, müssen mit auf die Wache - zur Sachverhaltsklärung. Auf dem Revier wird ihre Kleidung untersucht. Und siehe da: Unter dem Schuh eines der Männer klebt Blut. Blut, das später einem der Sittensen-Opfer zugeordnet werden kann.

Die Alhorner Autobahnpolizisten melden sich bei der Sonderkommission (Soko), die am Siebenfach-Mord von Sittensen arbeitet. Plötzlich wird aus der Routinekontrolle eine heiße Spur in einem der größten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte.

In Sittensen herrscht zu dieser Zeit bereits der Ausnahmezustand. Das „Lin Yue“ ist bekannt, befindet sich im Ortskern. Polizisten ziehen durch die Gemeinde und angrenzende Gebiete. Sie fragen Anwohner, ob ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen ist. Der Aufwand ist enorm. Und die Angst auch.

„Ich sag nichts, sonst werde ich umgebracht“

„Wir hatten eine ältere Frau dabei, die sich an den dunkelblauen Polo erinnern konnte und meinte: Ich sag aber nichts, sonst werde ich umgebracht! Damit wir an Informationen kommen, musste ich die ein oder andere Vertraulichkeitszusage machen“, erinnert sich Tschirner.

Andreas Tschirner sagt heute über den Siebenfach-Mord in Sittensen, an dem er ermittelt hat: „Man ist gerüstet für zukünftige Herausforderungen. Ich bin belastbarer und ruhiger geworden.“
Andreas Tschirner sagt heute über den Siebenfach-Mord in Sittensen, an dem er ermittelt hat: „Man ist gerüstet für zukünftige Herausforderungen. Ich bin belastbarer und ruhiger geworden.“

Mehreren Anwohnern ist der Wagen aufgefallen, den die Autobahnpolizisten später angehalten haben. Manche sagen, die Insassen hätten asiatisch ausgesehen. „Das konnten wir dann übereinanderlegen“, sagt Tschirner.

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Für Schramm und ihn ist es wichtig, den Richter davon zu überzeugen, gegen die im VW Polo festgenommenen Asiaten einen Haftbefehl zu erlassen. Es gibt viele Indizien, das Blut am Schuh, den Zettel einschließlich des Versuchs, ihn verschwinden zu lassen. Aber noch kein DNA-Gutachten zum Blut. Am Ende haben Schramm und Tschirner Erfolg. Die Verdächtigen kommen in Untersuchungshaft.

Wenn die beiden Kriminalisten heute von den Ermittlungen erzählen, wird klar, wie belastend sie gewesen sein müssen. „Viele Ermittler der Soko kamen vom LKA, also aus dem hannoverschen Umland. In den ersten Tagen und teilweise sogar Wochen war es wegen der Arbeitsbelastung – von morgens bis nachts – einfach nicht möglich, nach Hause zu fahren“, sagt Tschirner.

„Deswegen waren wir auf sehr viele Übernachtungsmöglichkeiten in Hotels und Pensionen in und um Rotenburg und Zeven angewiesen.“ Die Arbeitszeit: teilweise von 7 bis 23 Uhr.

Geodaten werden wichtig für die Ermittlungen

Trotzdem: Kaum einer will den Fall abgeben. Der Enthusiasmus ist groß. Genauso wie der Wille, die Täter dingfest zu machen. So gehen die Ermittlungen weiter. Wichtig werden für Schramm und Tschirner auch die Verbindungs- und Geodaten der Verdächtigen aus dem VW Polo.

Andreas Schramm erinnert sich noch gut an den Siebenfach-Mord von Sittensen. Es ist einer der größten Fälle seiner Karriere.<span class="copyright">privat</span>
Andreas Schramm erinnert sich noch gut an den Siebenfach-Mord von Sittensen. Es ist einer der größten Fälle seiner Karriere.privat

Sprich: Daten, die zeigen, wer sich wann wo aufgehalten und mit wem telefoniert hat.  „Irgendwann kristallisierte sich ein Täterkreis heraus“, sagt Schramm. Und der besteht aus insgesamt fünf Männern mit vietnamesischen Wurzeln.

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Am Ende müssen sich zwei Brüderpaare und ein Ex-Koch des „Lin Yue“, der den Tipp zum Überfall gegeben haben soll, vor dem Landgericht Stade verantworten. Polizei und Staatsanwaltschaft haben ihre Vorwürfe auf mehr als 40.000 Seiten Ermittlungsakten dokumentiert. Es geht auch um winzige Spuren, die Tatortspezialisten des Bundeskriminalamts (BKA) gesichert haben.

Tötung der Mitarbeiter wohl nicht von vornherein geplant

Alle Männer, die vor Gericht stehen, stammen aus Vietnam. Drei von ihnen sind polizeibekannt. Das Urteil fällt am 13. Mai 2009. Darin steht, dass es sich um einen eskalierten Raubüberfall handelt.

Gestohlen wurden Mobiltelefone, Handys und Bargeld. Die Männer-Gruppe entschloss sich kurzfristig dazu, das China-Restaurant auszurauben und kundschaftete am Nachmittag vorher die Gegend mit dem dunkelblauen Polo aus.

Geplant war die Hinrichtung der Mitarbeiter und des Betreiberpaars laut Gerichtsunterlagen nicht von Anfang an. Aber als einer der Angestellten fliehen wollte, eskalierte die Situation. Es durfte anscheinend keine Zeugen des Verbrechens geben.

Was im Urteil steht, liest sich wie ein Krimi. Tragisch ist vor allem eine Passage, in der die Zeit vor dem Überfall beschrieben wird. Gäste waren keine mehr im Restaurant, als die Täter eintraten, heißt es.

Betreiber und Angestellte hatten bereits aufgeräumt und das Lokal für den kommenden Tag hergerichtet. Sie wussten nicht, dass dann nichts mehr so sein würde wie vorher. Sieben Menschen ließen ihr Leben im „Lin Yue“, das es heute nicht mehr gibt.

Was der Siebenfach-Mord von Sittensen für Schramm und Tschirner bedeutet

Der Todesschütze und sein Bruder werden vom Landgericht Stade zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Mann muss wegen Raubes mit Todesfolge 14 Jahre ins Gefängnis, der Fahrer des Fluchtautos vier Jahre und neun Monate. Der Ex-Koch des „Lin Yue“ wird zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Für Schramm und Tschirner wird der Siebenfach-Mord von Sittensen immer einer der bedeutsamsten Fälle ihrer Karrieren bleiben, sagen beide. Schramms Blick auf andere Fälle hat sich dadurch verändert.

„Ich hatte auch später noch mit Morden zu tun, da habe ich gemerkt, dass ich gelassen an diese Sachen rangegangen bin“, sagt er. Und Tschirner meint: „Man ist gerüstet für zukünftige Herausforderungen. Ich bin belastbarer und ruhiger geworden.“