Der Siebenfach-Mord von Sittensen (1) - Polizist wird aus dem Schlaf gerissen - wegen eines China-Restaurants voller Leichen
In Sittensen passiert im Februar 2007 eines der grausamsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sieben Menschen sterben, sie alle arbeiteten in einem China-Restaurant. Ein Mann überlebt die Tat, weil er nichts hört.
Hinweis: Dieser Text enthält explizite Beschreibungen der Tat und somit auch physischer Gewalt. Die Inhalte können belastend oder retraumatisierend auf Leser wirken.
Es ist der 5. Februar 2007, kurz nach Mitternacht. Andreas Schramms Telefon klingelt. Eben noch im Tiefschlaf, nimmt er das Gespräch an. Am anderen Ende der Leitung: der Dienstabteilungsleiter der Polizei Rotenburg an der Wümme, Niedersachsen.
„Wir haben einen Mordfall in Sittensen mit vier Toten und einem Schwerstverletzten“, sagt er. Plötzlich ist Schramm, der als Kriminalbeamter arbeitet, hellwach. So viele Tote, das kommt in einem kleinen Ort wie Sittensen, wo damals um die 6000 Menschen leben, selten vor. Eigentlich nie.
„Gegen 1 Uhr morgens war ich am Tatort, als Sachbearbeiter“, erzählt der Beamte, der heute vier Jahre vor der Pensionierung steht, im Gespräch mit FOCUS online. Auch wenn der Fall mehr als 15 Jahre zurückliegt, kann sich Schramm an alles erinnern, als wäre es gestern gewesen.
Ein Ehemann findet seine Frau erschossen vor
Der Tatort ist ein China-Restaurant mitten im Ort. Es heißt „Lin Yue“ und nimmt die komplette erste Etage eines größeren Gebäudes ein. Im Erdgeschoss befinden sich damals eine Fahrschule und ein Pizza-Service.
Morgens um 1 Uhr weiß niemand, ob der oder die Täter sich noch im Gebäude herumtreiben. Der Ehemann einer Mitarbeiterin hat nur wenige Minuten zuvor die Leiche seiner Partnerin entdeckt und einen Notruf abgesetzt. Völlig unter Schock wünscht er am Telefon einen „Schönen guten Tag“, ehe er seinen grausamen Fund meldet, wie die „Welt“ berichtet.
Jetzt ist die Polizei vor Ort. Schramm handelt vorsichtig, erzählt er. Doch der Beamte merkt schnell, dass der Fall groß ist, zu groß für eine kleine Polizeidienststelle wie die in Rotenburg.
Er und seine Kollegen warten, bis klar ist, dass niemand mehr im Haus herumläuft. Einige Polizisten betreten das Restaurant, über dem sich drei Wohnungen befinden. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Beamten von vier Toten und einem schwerverletzten Mann.
Die Toten sind mit Kabelbindern gefesselt
Was die Ermittler zu sehen bekommen, muss grausam sein. Tatortaufnahmen zeigen ein Ausmaß der Brutalität, das Normalbürger höchstens aus Psychothrillern kennen. Doch das hier, das ist real. Unmengen an Blut. Gefesselte Leichen. Zerschossene Gesichter.
Die Toten, die die Ermittler nach und nach finden, haben Kabelbinder um ihre Daumen, teilweise auch um die Zehen. Sie ahnen bereits: Bevor diese Menschen starben, konnten sie sich nicht bewegen.
Einigen von ihnen wurden rosafarbene Tischdecken um die Köpfe gewickelt. „Wahrscheinlich als Schalldämpfer oder, damit das Blut nicht so spritzt“, sagt Schramm. Er und seine Kollegen sprechen von „Hinrichtungen“.
Hinter der Küche führt eine Treppe ins obere Geschoss des Hauses. Dorthin, wo die Wohnungen liegen. Auf die Ermittler wartet die nächste grausame Überraschung. In der Wohnung der Restaurant-Betreiber finden sie die Frau des Chefs.
Im oberen Geschoss die nächste, grausame Überraschung
Es sieht so aus, als hätte man sie gezwungen, sich hinzuknien. Und ihr dann von hinten-oben in den Kopf geschossen. So erzählt es Schramm. Er erinnert sich auch an andere Dinge, zum Beispiel den ersten Eindruck von der Wohnung. „Es war schwer, sich zu orientieren, weil alles so vollgestellt war“, meint der Polizist. „Extrem unaufgeräumt“.
Auch in der zweiten Wohnung, in der laut Unterlagen des Landgerichts Stade Mitarbeiter des China-Restaurants untergekommen sind, liegt ein Toter. Auch er: hingerichtet. Hinter der letzten Tür lebt ein Mann, der nichts mit dem „Lin Yue“ zu tun hat. Er ist unverletzt. Schramm glaubt: „Das war purer Zufall.“ Und, dass der Mann ein „Riesenglück“ hatte.
Der Polizist geht davon aus, dass die Täter auch vor seiner Wohnung standen. Doch der Mann hörte nichts. Er spielte ein Computerspiel und verhielt sich dabei offenbar so leise, dass die Angreifer gedacht haben müssen, er sei nicht zu Hause. Er ist, zusammen mit der damals zweieinhalbjährigen Tochter des Betreiberehepaars, der einzige Überlebende des Sittensen-Massakers.
Wirtsfamilie war im Ort beliebt
Insgesamt, das stellt sich später heraus, sterben sieben Menschen bei dem Vorfall. Sechs noch im Lokal, das siebte Opfer erliegt seinen Schussverletzungen im Krankenhaus.
Sittensens damaliger Bürgermeister Stefan Tiemann sagt den Medien, die Wirtsfamilie habe sich „gut eingefügt“ in die Ortsgemeinschaft und beschreibt die Gaststätte als beliebt. Umso größer ist das Entsetzen in der niedersächsischen Gemeinde. Die Angst geht um, viele Menschen können sich die Bluttat nicht erklären.
Die Ermittler haben indes viel zu tun. Die Dimension des Tatorts ist riesig. Außerdem könnte ein Zusammenhang mit organisierter Kriminalität bestehen. Spuren gibt es en masse: Blut, Schmauch, Fingerabdrücke. In der Wohnung des Restaurant-Betreiber-Paares finden die Beamten mehrere Tausend Euro Bargeld. Vermutlich die Einnahmen, die bei der Bank eingezahlt werden sollten.
Wer bei der Polizei arbeitet, weiß: Die ersten 48 Stunden sind in der Ermittlungsarbeit entscheidend. Schramm ist klar, dass er jetzt Dauer-Dienst hat. Aber er bekommt Unterstützung. Andreas Tschirner vom Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA) stößt zu den Ermittlern.
Auch für ihn ist das Verbrechen, das sich in Sittensen zugetragen hat, einer der bedeutendsten Fälle seiner Karriere. Im Gespräch mit FOCUS online erinnert er sich: „Da bewegen sich Menschen durchs Haus und töten. Und die Opfer liegen da, mit Kabelbindern zusammengeschnürt, sind ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert. So etwas vergisst man nicht.“
Wohnung der Opfer „extrem unaufgeräumt“
Bald ist klar: Die Tatwaffe hat ein kleines Kaliber, die Schüsse müssen aus nächster Nähe erfolgt sein. Aber das Motiv will sich zunächst nicht so recht zusammensetzen. Wer kommt nachts in ein China-Restaurant, fesselt und foltert zahlreiche Mitarbeiter und erschießt sie dann? In einem Ort wie Sittensen?
Schramm und Tschirner haben viele Fragezeichen im Kopf. Verschiedene Ermittlungsrichtungen bieten sich an, Mafia-Mord, Mord aus Eifersucht, vielleicht ist auch Rauschgift im Spiel.
Es hätte lange dauern können, den Durchblick zu bekommen. Aber die Beamten haben Glück. Denn mitten im Trubel meldet sich plötzlich die Autobahnpolizei Alhorn.
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