Der Nordhausen-Vorfall - Fällt jetzt die AfD-Brandmauer? „Es beginnt von unten, ganz banal und harmlos“

Gibt es in Thüringen auf kommunaler Ebene keine Brandmauer zur AfD mehr?<span class="copyright">Matthias Bein/dpa</span>
Gibt es in Thüringen auf kommunaler Ebene keine Brandmauer zur AfD mehr?Matthias Bein/dpa

Im thüringischen Nordhausen wurde vergangene Woche ein AfD-Politiker zum Stadtratsvorsitzenden gewählt - auch mit Stimmen anderer Fraktionen. Hatte die CDU ihre Finger im Spiel? Die Brandmauer scheint zu bröckeln.

Es ist wieder passiert. Nordhausen, eine 42.000-Einwohner-Stadt in Thüringen, hat es in die bundesweiten Schlagzeilen geschafft. Aber nicht wegen der Grünanlagen, Baudenkmäler oder Kirchen, für die der Ort bekannt ist. Sondern wegen der AfD.

Bereits vor rund einem Jahr war die Aufregung groß, als dort ein Politiker der Partei fast das Amt des Oberbürgermeisters übernommen hätte. Fast, weil am Ende der alte und neue OB Kai Buchmann (parteilos) die Wahl gewann.

Jetzt die nächste AfD-Debatte: Am vergangenen Mittwochabend wurde Andreas Leopold (AfD) zum neuen Stadtratsvorsitzenden gewählt. An sich nichts Ungewöhnliches, immerhin stellt die Partei mit 13 Mitgliedern die stärkste Fraktion in dem Gremium. Allerdings reichten die Stimmen der AfD für einen Sieg Leopolds nicht aus.

Vier Mitglieder anderer Fraktionen müssen für AfD-Kandidaten gestimmt haben

Wie die „Thüringer Allgemeine“ berichtet, müssen sich im entscheidenden zweiten Wahlgang mindestens vier Mitglieder anderer Fraktionen für den Kandidaten entschieden haben. Weil die Abstimmung geheim war, lässt sich nicht sagen, aus welchen Parteien die Stimmen kamen.

In der Nordhauser SPD hält man es aber für wahrscheinlich, dass die CDU Leopold ins Amt geholfen hat. „Ein verstörendes Abstimmungsergebnis“, sagte der Sozialdemokrat Georg Müller im Gespräch mit der „Thüringer Allgemeinen“.

Auch für andere klingt es plausibel, dass der AfD-Kandidat Unterstützung von den Christdemokraten bekommen hat. Zum Beispiel die Grüne Madeleine Henfling, Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2024 und Vizepräsidentin im Thüringer Landtag.

„Ich erlebe gerade in einigen Kommunalparlamenten in Thüringen, dass AfDler auch durch die CDU in solche Positionen gewählt werden“, schrieb sie direkt am Mittwoch auf X (ehemals Twitter).

Grüne kritisiert: „Jetzt hat Mitglied einer extrem rechten Partei Macht über Stadtrat“

Und weiter: „Es reicht nicht, darüber zu sprechen, die AfD nicht an die Macht zu lassen. Man muss es auch in Taten umsetzen. Jetzt hat ein Mitglied einer extrem rechten Partei Macht über einen kompletten Stadtrat.“

FOCUS online hat Henfling kontaktiert - immerhin behauptet sie, die CDU habe der AfD in mehreren Thüringer Kommunalparlamenten den Rücken gestärkt und damit die viel beschworene Brandmauer eingerissen.

„In einem flächenmäßig zwar großen, aber politisch bisher überschaubaren Bundesland, bin ich als langjährige Politikerin auf Landesebene und in den Kommunen gut vernetzt“, erklärt Henfling im Gespräch mit FOCUS online.

Der Landesverband der Grünen umfasst in Thüringen rund 1400 Mitglieder. „Fast familiär“ gehe es zu, so Henfling. Mit den Mitgliedern aus Nordhausen stehe sie regelmäßig in Kontakt. Und: „Solche Ereignisse werden schnell an mich herangetragen.“

Henfling nennt Beispiele aus anderen Städten und Landkreisen in Thüringen

Immer wieder gibt es Berichte über Thüringer Kommunen, in denen AfD-Kandidaten zentrale Ämter übernommen haben - mit Hilfe der CDU.

Ein Beispiel ist der Kreistag in Schmalkalden-Meiningen. Hier wurde kürzlich der AfD-Politiker Volker Rosenhahn „mit Stimmen der AfD und auch der CDU zum Vize-Landrat gewählt“, sagt Henfling. Nachlesen kann man das in der Lokalpresse.

Auch in Gera seien, so berichtet es die Grüne, „trotz demokratischer Gegenkandidaten“ AfDler unter den Ausschussvorsitzenden. Der CDU gibt sie dafür eine Mitschuld.

Besonders brisant ist in Henflings Augen auch der Fall Frank Böwe. Er gehört keiner Partei an. Trotzdem sitzt Böwe, dem Verbindungen in die Neonazi-Szene nachgesagt werden, seit einigen Monaten für die CDU im Stadtrat Ruhla und für die AfD im Kreistag des Wartburgkreises.

Die Causa sorgte für Aufregung, vor allem im linken Spektrum . Dahinter steht die Frage: Wo verläuft die Trennlinie zwischen AfD und CDU, wenn ein Kandidat - und sei es auch nur auf kommunaler Ebene - offenbar beide Parteien vertreten kann?

Thüringer CDU ist verärgert über Henflings Vorwürfe

Die CDU hatte in der Vergangenheit immer wieder Distanz im Umgang mit der AfD postuliert. Der „Spiegel“ zitiert ganz aktuell aus einer Handreichung der Partei für Mitglieder:

„Eine Zusammenarbeit mit Linkspartei oder AfD wäre nicht nur ein Angriff auf unsere Identität und ein Verrat an unseren christdemokratischen Werten.“ Und weiter: „Sie würde auch unser wichtigstes Gut beschädigen: Unsere Verlässlichkeit und unsere Glaubwürdigkeit.“

Grünen-Frau Henfling findet hingegen: „Die Brandmauer, wie sie die CDU und ihr Vorsitzender Friedrich Merz definiert haben, existiert nicht.“

Die CDU Thüringen will Henflings Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen. „Sie sind unredlich und unanständig“, heißt es auf Nachfrage von FOCUS online. „Statt Schuldzuweisungen sollten andere Demokraten die CDU im Kampf gegen die AfD unterstützen.“

In dem schriftlichen Statement bezeichnet sich die CDU als „Bollwerk gegen die AfD“ und weist darauf hin, dass die Wahl in Nordhausen geheim war. Auf die Frage, ob sie für eine Koalition mit der AfD offen sei, betont die Thüringer CDU: „klares Nein“.

Politologe konstatiert: „Es sind zu viele Einzelfälle“

Experten schauen ernüchtert auf die Brandmauer-Debatte, die jetzt, mit der neuen Situation in Nordhausen, wieder Fahrt aufgenommen hat.

Es geht nicht nur um Thüringen - auch in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern gibt es Landkreise und Städte, in denen AfDler wichtige Positionen einnehmen. Die CDU soll daran einen Anteil haben, wie aus verschiedenen Medienberichten hervorgeht.

Der Sozialwissenschaftler Alexander Häusler von der Hochschule Düsseldorf sagt im Gespräch mit FOCUS online: „Es sind zu viele „Einzelfälle“. Die Brandmauer der CDU „gegen rechts“ ist schon lange eingerissen worden, zumindest in Ostdeutschland.“

Auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder, der am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und an der Universität Kassel arbeitet, beobachtet eine solche Entwicklung. Am WZB führt er ein Forschungsprojekt durch, das sich mit der „Brandmauer“ beschäftigt - nicht nur mit Blick auf die CDU, sondern alle größeren Parteien.

„Dass Grenzen verschwimmen, ist in Hunderten Kommunen so, das kann ich jetzt schon sagen. Und am ehesten werden Brandmauern von der CDU eingerissen“, erklärt Schroeder im Gespräch mit FOCUS online. Bis 2024 war er Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

„Hier bei uns geht es doch nur um Bürgersteige und Friedhöfe“

Vom „Nein“ zur AfD zum „Jein“ - das kann viele Gründe haben. Gerade auf lokaler Ebene kennen sich Politiker oft gut. Aus der Kindheit, aus dem Schützenverein oder einfach, weil sie nebeneinander wohnen.

„Da ist es dann oft gar nicht mehr so wichtig, ob jemand jetzt in der CDU oder der AfD ist. Es kommt mehr darauf an, dass man sich nahesteht. Es gibt ja auch die Situation, dass eine Person die Partei gewechselt hat, also zum Beispiel von der CDU zur AfD“, sagt Schroeder.

Sich gegenseitig zu unterstützen, kann darüber hinaus politische Vorteile mit sich bringen: Mehrheiten für eigene Anträge zum Beispiel. Außerdem haben AfD und CDU durchaus inhaltliche Schnittmengen: etwa in der Sozial-, Wirtschafts- und Migrationspolitik.

Manchmal steckt hinter der Entscheidung, einen AfD-Kandidaten zum Stadtratsvorsitzenden zu wählen, auch Kritik an der eigenen Partei, der man nicht zutraut, die Verhältnisse vor Ort zu verstehen, sagt Schroeder. „Parteien sind zerrissen und manche Kommunalpolitiker sagen sich: Wir lassen uns von denen da oben nicht alles vorgeben.“

„Die Normalisierung der AfD beginnt von unten“

Immer wieder kommt es dabei laut dem Politologen aber zu einem gefährlichen Denkfehler. „Dann heißt es: Hier bei uns geht es doch nur um Bürgersteige, Friedhöfe, Bushaltestellen. Mit der großen Politik hat das wenig zu tun.“

Das stimmt Schroeder zufolge aber nur auf den ersten Blick. Denn: „Die Normalisierung der AfD beginnt von unten, kommt ganz banal und harmlos daher. Und je normaler die Partei wahrgenommen wird, desto schwerer wird es, die Abgrenzung von extremen Kräften zu begründen.“

Die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind für die AfD sicher zentrale politische Ereignisse. „Wichtiger wird der Partei aber am Ende des Jahres sein, wie viele kommunalpolitische Positionen mit AfD-Leuten besetzt wurden“, meint Schroeder.

Wie andere politische Beobachter glaubt er, dass die Strategie der Rechtspopulisten einen regionalen Fokus hat. Heißt: Die AfD will sich im Kleinen etablieren, sich in Dörfern und Landkreisen beliebt machen, das politische Fundament von unten aushöhlen und sich dann für höhere Ämter prädestinieren.

„AfD will das System von unten aufweichen“

Deswegen ist Schroeder auch empört über das Bröckeln der Brandmauer. „Was die CDU - und andere Parteien - tun, wenn sie auf kommunaler Ebene AfDler oder Anträge der Partei unterstützen, ist gefährlich, unvernünftig und so nicht zu akzeptieren“, sagt er.

„Weil sie ignorieren, worum es der AfD wirklich geht: das bestehende System langsam zu zerstören.“ Davor haben übrigens schon einige Experten gewarnt. Unter anderem Ex-Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, der Ende 2023 im „Tagesspiegel“ von einer „grundlegenden Systemveränderung“ sprach, die die Köpfe der AfD anstreben würden.

Zumindest manche CDUler scheinen alarmiert angesichts der Vorwürfe, die in vielen ostdeutschen Kommunen im Raum stehen. Dennis Ratke, Vize-Chef des Arbeitnehmerflügels, sagte dem „Spiegel“:

„Der Bundesvorstand muss sich damit beschäftigen, wenn es den Verdacht gibt, dass die CDU mit der AfD gemeinsame Sache macht. So etwas schadet der Partei und dem Land. Die Verantwortung für das große Ganze darf nicht am Ortseingangsschild aufhören.“