Kritik am Sicherheitspaket - Wegen Asylkurs brodelt es in der SPD – Scholz fährt riskante Doppelstrategie

Demonstranten protestieren vor der Hamburger Parteizentrale der SPD gegen eine verschärfte Migrationspolitik.<span class="copyright">Markus Scholz/dpa</span>
Demonstranten protestieren vor der Hamburger Parteizentrale der SPD gegen eine verschärfte Migrationspolitik.Markus Scholz/dpa

SPD-Mitglieder und -Abgeordnete wenden sich gegen die Migrationspolitik des Kanzlers. Das Vorgehen der Rebellen stört manche in der Partei. Scholz gibt sich unterdessen weiter selbstgewiss, mit seinem Kurs Führungsstärke und Verständnis für die Stimmung im Land zeigen zu können.

Für den Bundeskanzler wird der Oktober ein heikler Monat. In der SPD werden die Spitzenpolitiker genau darauf achten, ob Olaf Scholz Argumente dafür liefern kann, dass er auch bei der kommenden Bundestagswahl für das höchste Regierungsamt antreten sollte. Und in der Bevölkerung werden viele kritisch beäugen, ob und welche Antworten die Regierung auf die drängenden Probleme in Deutschland findet.

Zentral wird dafür das sogenannte Sicherheitspaket , das die Ampel als Reaktion auf den Anschlag in Solingen schnüren will. In der kommenden Woche soll der Bundestag es endlich beschließen, die finalen Absprachen laufen aktuell.

Mitten in die Beratungen platzte in der vergangenen Woche dann aber ein offener Brief von SPD-Mitgliedern und anderen Unterstützern, er richtete sich an Regierung, Partei und Abgeordnete. Die Unterzeichner wollen „eintreten für Würde“ und kritisierten zentrale Punkte des Sicherheitspakets.

SPD-Abgeordnete zerren internen Migrationsstreit an die Öffentlichkeit

Schon das sorgte in der SPD-Fraktion bei einigen für Verwunderung. Unterschrieben hatten nämlich auch sozialdemokratische Parlamentarier, die Absender hatten ihn damit an sich selbst adressiert . In dieser Woche antworteten dann 35 SPD-Abgeordnete in einer gemeinsamen Erklärung auf den Brief – darunter wieder die Initiatoren selbst.

 

Spätestens damit wurde der Streit in der SPD über die Migrationspolitik an die Öffentlichkeit gezerrt. „Das Sicherheitspaket erschwert das Leben von Asylbewerbern und Asylbewerberinnen so sehr, dass es in dieser Form nicht mit sozialdemokratischen Werten vereinbar ist“, erklärt Ye-One Rhie ihr Mitwirken an der Erklärung im Gespräch mit FOCUS online. Die Aachener Bundestagsabgeordnete kritisiert unter anderem, dass mit dem Sicherheitspaket Asylbewerber von Sozialleistungen ausgeschlossen würden. Auch Grenzkontrollen und der Abgleich biometrischer Daten sind ihr und den anderen Unterzeichnern ein Dorn im Auge.

Ist die Erklärung Rückenwind oder Hemmschuh für die Verhandlungen?

Rhie weist Stilkritik an der Briefschreiberei zurück. „Jeder Brief verdient eine Antwort. Deshalb haben wir uns erklärt.“ Scholz sieht sie dadurch nicht unter Druck gesetzt, im Gegenteil: „Er hat mit unserer Erklärung jetzt auch Rückendeckung für Verhandlungen mit den Koalitionspartnern bekommen. Er kann nun auf die Meinung zahlreicher SPD-Mitglieder verweisen.“

Ganz anders sehen das in der Fraktion diejenigen, die sich für Änderungen in der Migrationspolitik einsetzen. Der offene Brief sei absolut nicht hilfreich. Man würde sich mit ihm und der Antwort darauf in Gesprächen mit den Koalitionspartnern FDP und Grünen nur selbst den Verhandlungsspielraum nehmen.

Beide Seiten interpretieren die Sachlage grundverschieden

Ausbaden muss das dann der Kanzler. Und die Innenpolitiker, die am Sicherheitspaket arbeiten. Zu den Briefschreibern gehören hingegen vor allem Politiker anderer Fachrichtungen. Rhie zum Beispiel ist für Bildung und Forschung zuständig, andere für Bauen und Wohnen, Soziales oder Menschenrechte. Bisweilen müssen die sich deshalb von Fraktionskollegen vorwerfen lassen, die komplexe Materie nicht korrekt oder verzerrt darzustellen.

Beispiel Sozialleistungen für Asylbewerber, die eigentlich nach Dublin-Regeln in einem anderen EU-Land einen Antrag stellen müssten: „Für mich wäre der Ausschluss von Leistungen ein Punkt, der gegen alles gehen würde, von dem ich überzeugt wäre. Bleibt das so im Sicherheitspaket, kann ich nicht zustimmen“, betont Rhie.

Die Pragmatiker in der Fraktion weisen hingegen darauf hin, dass die Asylbewerber nicht gänzlich ohne Leistungen auskommen müssten – denn einen Anspruch darauf hätten sie sehr wohl, nur eben nicht in Deutschland, sondern einem anderen EU-Staat. Damit sehen sie die Kritik als entkräftet an.

Wie groß ist die Rebellen-Gruppe in der SPD wirklich?

In der SPD-Fraktion ist ein Kampf um die Deutungshoheit in der Migrationspolitik entbrannt, der immer mehr Feuer bekommt, je näher die Abstimmung des Sicherheitspakets rückt. Dabei versuchen beide Gruppen, ihre Unterstützerbasis möglichst breit wirken zu lassen. Knapp drei Dutzend Abgeordnete, die an der Erklärung gegen Verschärfungen mitgewirkt haben, sind im Vergleich zu 207 insgesamt in der Fraktion nicht viel.

Rhie ordnet das so ein: „Es ist nicht so, dass hinter unserer Erklärung nur 35 Abgeordnete stehen und die restliche Fraktion steht gegen uns. Ich habe mit vielen Kolleginnen und Kollegen gesprochen, die die Dinge ähnlich wie wir sehen.“ Zudem hätten sich in den vergangenen Wochen bei Fraktionssitzungen und -klausur immer mehr Leute kritisch zu Wort gemeldet, die sich sonst nicht zur Migrationspolitik äußern würden.

Andere hingegen sprechen nur hinter vorgehaltener Hand über die Kritik am Sicherheitspaket. „Viele Abgeordnete erleben Druck aus ihrem Wahlkreis, weil sich dort die Stimmung zur Migrationspolitik dreht. Das macht es schwerer für sie, sich klar für eine sozialdemokratische Politik einzusetzen“, glaubt Rhie.

Auf der anderen Seite verweist man auf die Landräte und Bürgermeister mit SPD-Parteibuch, die schon lange über die Überlastung bei der Unterbringung von Geflüchteten klagen. Diese Stimmen seien mindestens ebenso beachtenswert. Weil sie aber nicht organisiert als Gruppe auftreten und keinen offenen Brief geschrieben haben, würden sie aktuell weniger mediale Beachtung finden.

Beiden Seiten sehen Kanzler Scholz auf ihrer Seite

Schließlich versuchen beiden Seiten mit dem Kanzler zu argumentieren. Da direkte und offene Kritik an Olaf Scholz in der SPD – Stand jetzt – nicht geäußert wird, fährt man eine andere Strategie: Man vereinnahmt ihn für sich und versucht glaubhaft zu machen, er stünde auf jeden Fall auf der richtigen Seite.

„Olaf Scholz hat sozialdemokratische Werte. Möglicherweise hat er Stimmen wie unsere in den vergangenen Monaten aber zu selten gehört und kommt deshalb zu anderen Schlüssen als wir“, so klingt das dann zum Beispiel bei Rhie. Sie verweist auch auf die Zeit, als Scholz noch Regierender Bürgermeister von Hamburg war. Daran sehe man, dass für ihn eine offene Migrationspolitik und Integration schon immer Herzensthemen gewesen seien. Scholz hatte damals etwa mit dem Bau von neuen Asylunterkünften die hohe Wohnungsnachfrage in der Stadt befriedigt.

Mit dem gleichen Argument operiert auch die andere Seite: Schon in Hamburg sei offensichtlich geworden, dass Scholz klar für Ordnung in der Migrationspolitik stehe. Er hatte zum Beispiel 2017 mehr Abschiebungen gefordert, andernfalls „werden wir ein großes Problem bekommen“, erklärte er damals.

Scholz deutet die Kritik als Zustimmung um

Und Scholz selbst? Er verteidigt intern die harte Linie des Sicherheitspakets offensiv, nach außen lies er über einen Regierungssprecher verlautbaren, er fühle sich durch den offenen Brief sogar „in seinem Kurs bestärkt“. Das ist eine gewagte Umdeutung der Kritik. Aber der Kanzler muss eben alles daran setzen, in den Migrations- und Sicherheitsdebatten Entschlossenheit zu vermitteln.

Zeigt Scholz in dieser Sache Führungsschwäche, könnten ihm mit der Kanzler-Frage noch viel unangenehmere Themen ins Haus stehen. In der Bevölkerung würde sein Ruf noch weiter leiden, die Innenpolitiker würden sich verraten fühlen. Bleibt er hingegen maximal hart, könnte die Rebellion der Asylwende-Kritiker in der SPD noch lauter werden.

Scholz will mit Härte auf der einen Seite Spielraum auf der anderen Seite schaffen

Das Problem ist nicht neu, Scholz hat sich deshalb eine Doppelstrategie zurechtgelegt. Die beschreiben manche in der SPD so: Auf der einen Seite zeigt der Kanzler Härte. Bei den Abschiebungen zum Beispiel, die er „im großen Stil“ durchsetzen will, neuerdings auch bei Grenzkontrollen und Sozialleistungen. Damit bedient er die migrationskritischen Stimme in der Bevölkerung und pragmatische Sozialdemokraten.

Auf der einen Seite hart durchzugreifen, so der Gedanke, schafft auf der anderen Seite Spielraum für liberalere Politik: exemplarisch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das Chancen-Aufenthaltsrecht. Mit letzterem können Flüchtlinge, die lediglich geduldet werden, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erlangen.

Nach dem wahrscheinlich islamistischen Anschlag in Solingen ist jetzt offenbar aber die Zeit der Härte. Scholz wird deshalb kaum substanziell von den Positionen im Sicherheitspaket abrücken, die Innenpolitiker in der Fraktion ebenfalls nicht. Man ist deshalb tiefenentspannt und glaubt, dass die Gesetze den Bundestag problemlos passieren werden.

Ein Reflex wegen Solingen – oder passgenaue Antwort auf den Anschlag?

Für die Kritiker wäre das nach ihren öffentlichen Aktionen eine herbe Niederlage. Zurückbleiben würde für sie das Gefühl, dass die SPD sich auf das Spiel der AfD eingelassen hat – nämlich alle Probleme auf die Migration zurückzuführen. Als Antwort auf einen Anschlag Migrationspolitik zu machen, hält Rhie deshalb für grundfalsch: „Damit wird ein Zusammenhang zwischen Terrorismus und Migration hergestellt, der erstens nicht nachweisbar und zweitens unglaublich gefährlich ist.“

Die Reaktion auf Solingen sei reflexhaft gewesen, auch in der SPD hätten „nicht alle Politiker zuerst genau den Anschlag analysiert, bevor sie Forderungen aufgestellt haben“. Die andere Seite widerspricht dem vehement: Der Attentäter ist als Flüchtling nach Deutschland gekommen und hätte abgeschoben werden sollen, als Tatwaffe hat er ein Messer verwendet. Jetzt bei der Migrationspolitik und dem Waffenrecht anzusetzen, hält man nur für die logische Konsequenz.

Der Umgang mit diesen Themen wird wohl auch über das Sicherheitspaket hinaus „zentrale Frage“ der Sozialdemokraten bleiben, wie Rhie es nennt. Für Scholz wird nach der Abstimmung aber immerhin etwas mehr Klarheit herrschen: Ob er den Sturm im Wasserglas einiger Rebellen nicht zu fürchten hat – oder ob sich die Diskussion um seine Führung weiter auswachsen wird.