Kurs verschlingt Milliarden - Ein ungelöstes Problem gefährdet Polens teure Atomkraft-Pläne
Polen setzt auf Atomkraft als Ersatz für Kohle. Mindestens zwei Kernkraftwerke will Warschau bauen. Doch die Kosten explodieren, der Bau verzögert sich. Der erste Reaktor soll nun 2040 ans Netz gehen, elf Jahre später als geplant. Woher das Geld kommen soll, bleibt die ungelöste Frage, vor der Osteuropa steht.
In Osteuropa bauen Länder wie Rumänien, Tschechien, Ungarn und die Slowakei, die vor allem Atomkraftwerke aus den 70er und 80er Jahren geerbt haben, neue Reaktoren - oder planen sie. Denn: Die EU fordert von ihren Mitgliedsstaaten die Dekarbonisierung der Energieversorgung, weshalb viele osteuropäische Staaten trotz der enormen Kosten auf Atomkraft setzen. Auch Polen, wo Kohle noch fast zwei Drittel des Strommixes ausmacht.
Nach Berechnungen des Nachrichtendienstes Bloomberg wollen osteuropäische Länder mindestens ein Dutzend neue Atomreaktoren bauen, die insgesamt rund 130 Milliarden Euro kosten könnten. Eine solche Zahl ist für den Bau mehrerer neuer Anlagen und Reaktoren nicht ungewöhnlich. Allein die neuste Anlage in Polen soll nach aktuellen Schätzungen rund 35 Milliarden Euro kosten.
Start des ersten Reaktors bereits verspätet
Nach derzeitigem Stand plant Polen den Bau von sechs Reaktoren mit einer Kapazität von 6 bis 9 Gigawatt (GW). In einem offiziellen Dokument der früheren PiS-Regierung aus dem Jahr 2020 war noch von einer Inbetriebnahme des ersten Reaktors im Jahr 2033 die Rede. Nach Verzögerungen halten aktuelle Schätzungen einen Start im Jahr 2040 für realistisch.
Polen erzeugte im vergangenen Jahr rund 64 Prozent seines Stroms aus Kohle und etwa acht Prozent aus Erdgas. Nach Angaben des polnischen Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Technologie sollen die polnischen Kernkraftwerke bis 2043 rund 25 Prozent des Strombedarfs decken.
Wie viele Kernkraftwerke und Reaktoren in Polen letztendlich gebaut werden, wo und wann genau sie gebaut werden und wie sie finanziert werden, ist jedoch noch unklar. Generell stellt die Finanzierung der Kernenergie für die betroffenen Staaten immer wieder ein Problem dar.
Finanzierung: AKWs brauchen lange und sind teuer
Denn in den wenigsten Fällen bleiben die Kosten so, wie sie ursprünglich geplant waren. Tamas Pletser, Equity Research Analyst bei Erste Investment, beschäftigt sich mit Öl-, Gas- und Energiethemen. Er erklärt, dass es schwierig sei, private Investoren für langfristige Projekte wie Atomkraftwerke zu finden, die einen Zeithorizont von mindestens zehn Jahren haben. „Das Risiko ist für private Investoren bei einem so langen Investitionszeitraum zu hoch. Ich würde sagen, dass eine zwei- bis dreifache Kostenüberschreitung eher die Regel als die Ausnahme ist. Deshalb erfolgt die Finanzierung in der Regel durch den Staat und nicht durch den Privatsektor“.
Der Staat kann aber die Fremdfinanzierung unterstützen, etwa durch staatliche Garantien für Kredite. Dies ist jedoch mit Risiken verbunden. Kann der Kredit nicht zurückgezahlt werden, muss der Staat einspringen.
Dass die Kosten fast immer höher sind, erklärt Pletser mit dem langen Investitionszeitraum, der Inflation und unvorhergesehenen Ausgaben. Als Beispiel nennt er das ungarische Projekt Paks II. Ungarn plant den Bau von zwei Reaktorblöcken zusätzlich zu den vier in Betrieb befindlichen Blöcken aus den 1980er Jahren. Bei der Planung sei jedoch der niedrige Wasserstand der Donau im Sommer nicht berücksichtigt worden. Der Fluss könnte dann höhere Temperaturen erreichen als geplant, und statt die Donau zur Kühlung zu nutzen, müssten Kühltürme im Wert von weiteren zwei Milliarden Euro gebaut werden.
Generell haben die osteuropäischen Staaten kein einheitliches Finanzierungskonzept. So werden die neuesten ungarischen Reaktoren über ein Hybridmodell finanziert, zum Teil über ein staatliches Versorgungsunternehmen, zum Teil über Kredite des russischen Staates, der knapp 80 Prozent des Finanzierungsbedarfs von 12,5 Milliarden Euro abdeckt.
Nach Angaben des polnischen Ministeriums für Klima und Umwelt soll die Finanzierung in Polen aus einer Mischung von Eigen- und Fremdkapital bestehen, wobei die Fremdfinanzierung einen „erheblichen Anteil“ an der Finanzierungsstruktur des Projekts haben soll. Nach Expertenmeinung wird etwa ein Drittel der Kosten von der polnischen Regierung und etwa 70 Prozent von Institutionen wie Banken getragen. Insbesondere die staatliche Export-Import (Exim) Bank der USA soll einen erheblichen Anteil der Finanzierung übernehmen.
Hilfe der EU bei der Atom-Finanzierung
Bei Kosten in dieser Höhe wird schnell der Ruf nach EU-Hilfen laut. Laut Bloomberg warten die osteuropäischen Staaten auf die Verabschiedung des neuen EU-Budgets im kommenden Jahr.
Dass die EU direkte finanzielle Hilfe leisten wird, halten Experten jedoch für fraglich. „Manche hoffen auf EU-Hilfe, aber ich halte das nicht für realistisch“, sagt Monika Morawiecka, Expertin für Mittel- und Osteuropa bei der Organisation „Regulatory Assistance Project“.
Auch wenn die EU die Kernenergie inzwischen unter bestimmten Bedingungen als umweltverträglich einstuft, herrscht zwischen den Mitgliedsstaaten weiterhin Uneinigkeit. Während Frankreich eine stärkere Förderung der Nukleartechnologie fordert, lehnt Österreich die Kernenergie nach wie vor vehement ab. Bei den erneuerbaren Energien, so Monika Morawiecka, seien sich die Staaten mehr oder weniger einig, dass die Technologie notwendig und unverzichtbar sei. Bei der Atomkraft sei das nicht der Fall.
Das polnische Ministerium für Klima und Umwelt teilte auf Anfrage mit, dass das Projekt nicht von der Bereitstellung von EU-Mitteln abhängig sei.
Breite Zustimmung der polnischen Bevölkerung
Die Atompläne der Regierung stoßen in der polnischen Bevölkerung auf Zustimmung: Laut Daten von Statista lag der Anteil der Befürworter von Atomkraft in Polen im Jahr 2022 bei 86 Prozent, eine Umfrage der polnischen Forschungsagentur CBOS vom Dezember 2022 spricht von 75 Prozent. Experten zufolge hält ein Großteil der Bürger die Kernenergie für eine zuverlässige Quelle, die unabhängig vom Wetter Strom liefert und notwendig ist, um sich von der Stromerzeugung auf Kohlebasis zu lösen.
Adam Traczyk, Meinungsforscher beim Warschauer Think Tank „More in Common“, sagt, dass die Mehrheit der polnischen Bevölkerung zwar den Bau von Atomkraftwerken befürworte, aber nicht so stark wie den Ausbau erneuerbarer Energien. Die Bevölkerung wolle weg von Kohle und Gas und hin zu Wind-, Sonnen- und Atomkraft.
Der Ausbau der Kernenergie stehe in der Gesellschaft für mehr Unabhängigkeit und Energiesicherheit. „Ein gewisses Streben nach Größe spielt dabei auch eine Rolle. Viele andere Staaten haben auch Atomkraft, warum sollte Polen zurückbleiben“, sagt Adam Traczyk.
Ähnlich sieht es Weronika Sikorska-Jankowska, die in der Nähe von Danzig lebt, rund 100 Kilometer vom Standort des ersten Kernkraftwerks entfernt. „Polen braucht unbedingt ein eigenes Kernkraftwerk, um nicht so stark von anderen Ländern abhängig zu sein“, meint die 26-Jährige. „Atomkraft ist effizient und zuverlässig, und man kann heute sowohl Sicherheit als auch Umweltneutralität garantieren.“
Dass Atomkraft ein teures Unterfangen ist, hat die öffentliche Meinung bisher nicht beeinflusst. Laut Adam Traczyk findet die Diskussion derzeit eher auf symbolischer Ebene statt, denn jeder wolle für Wachstum und Entwicklung sein und nicht dagegen. Was das Projekt letztendlich kosten wird und wie der Ausgleich durch erneuerbare Energien aussehen wird, sei weder in breiten Teilen der Gesellschaft noch in der Politik diskutiert worden.
Strompreisabsicherung soll Investoren Finanzierung sichern
Wie sich die öffentliche Meinung entwickeln wird, wenn die Kernenergie zu höheren Strompreisen führt, ist noch unklar. Auch die Entwicklung des Strompreises bis 2040 - dem Jahr, das Experten als realistischen Starttermin für Kernkraftwerke ansehen - ist schwer vorherzusagen. Den Preis abzusichern, könnte jedoch einer der Mechanismen sein, um Atomkraftwerke rentabel zu machen und Investoren zu gewinnen. Laut der polnischen Nachrichtenseite BiznesAlert.pl hat das polnische Ministerium für Klima und Umwelt bestätigt, dafür einen Differenzvertrag (Contract for Difference") nutzen zu wollen, der der Zustimmung der Europäischen Kommission bedarf.
Bei Differenzverträgen wird ein garantierter Preis festgelegt, den der Stromerzeuger für seinen Strom erhält. Häufig werden diese Verträge mit dem Staat abgeschlossen. In diesem Fall wird der Strom an der Strombörse verkauft, ohne dass das Versorgungsunternehmen dem Marktrisiko ausgesetzt ist. Liegt der Marktpreis, zu dem der Strom verkauft wird, unter dem garantierten Preis, gibt der Staat die Differenz dazu, so dass der Erzeuger keinen Verlust macht - was das Projekt auch für Investoren attraktiver macht.
Wird der Strom jedoch zu einem höheren Preis als dem vertraglich vereinbarten Ausübungspreis verkauft, muss die Differenz an den Staat zurückgezahlt werden. Der Stromerzeuger wird also nie mehr Geld verdienen als vertraglich vereinbart, aber auch nicht weniger.
„Wir haben gerade ein ganz aktuelles Beispiel in Tschechien. Dort hat die Europäische Kommission gerade den Abschluss eines „Contract for Difference“ für diese Energie genehmigt. Ich vermute, dass die wirkliche Diskussion auch in Polen beginnen wird, sobald die Menschen verstehen, wie viel diese Energie kosten wird“, sagt Monika Morawiecka.
„Man unterstützt damit eine Technologie, die viel zu teuer ist“
Laut Jens Weibezahn, Assistenzprofessor an der Copenhagen School of Energy Infrastructure (CSEI), stecken auch in Differenzverträgen je nach Vertragsgestaltung entweder Steuergelder oder Gelder, die in irgendeiner Form von den Stromkunden kommen. Er bezweifelt, dass dieses Geld sinnvoll investiert ist.
„Damit wird eine Technologie gefördert, die viel zu teuer ist. Man muss sich nur die Kostenentwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte anschauen, das macht volkswirtschaftlich keinen Sinn“, erklärt er. Außerdem müsse man bedenken, dass für den Ausbau der erneuerbaren Energien, der Stromnetze und der Speicher Kapital benötigt werde, das durch die gestiegenen Zinsen noch teurer geworden sei. “Wir müssen schauen, dass wir das Kapital dort einsetzen, wo es den größten Nutzen bringt, und das ist aus meiner Sicht nicht die Kernenergie.
Atomkraft – unentbehrlich?
Die Kosten sind jedoch nicht das einzige Problem der polnischen Kernenergie. Experten sind sich einig, dass in Sachen Personal, Erfahrung und Know-how noch erheblicher Nachholbedarf besteht. Schließlich handelt es sich um Polens erstes Atomkraftwerk. Experten verweisen auch auf die nach wie vor starke polnische Kohlegewerkschaft, mit der die Regierung um Frieden bemüht ist. Rund 80.000 Bürger arbeiten im polnischen Kohlesektor.
Die Bevölkerung, die Regierung und nicht wenige Experten sind sich einig: Polen braucht die Kernenergie, um von der Kohle wegzukommen. Doch es gibt auch andere Meinungen: „Bis 2030 werden wir in Polen mindestens die Hälfte des Energiemixes mit erneuerbaren Energien erzeugen“, sagt Monika Morawiecka. Damit meint sie Solar- und Windenergie sowie Offshore-Wind, von dem bis 2030 sechs Gigawatt installiert werden sollen. „Ich glaube, wir können auf Atomkraft verzichten. Die Atomkraft wird von Leuten gefördert, die nicht verstehen, wie das Energiesystem der Zukunft aussehen wird und wie es ohne Grundlasterzeugung funktionieren kann.“
In der Realität sei es fast eine Frage des Nationalstolzes: „Das Motto ist eher ‚Wir sind eine starke, stolze Nation, die Kernenergie braucht, die uns dann niemand wegnehmen kann‘“. In Polen wolle man eine zuverlässige Energiequelle haben, die nicht von Importen aus anderen Ländern abhängig ist. „Das ist natürlich etwas irreführend, denn man wird abhängig sein von demjenigen, der den Kernbrennstoff liefert.“
Auch Jens Weibezahn ist der Meinung, dass das Land nicht unbedingt auf Atomenergie angewiesen ist. Polen habe unter anderem Zugang zur Ostsee und damit Möglichkeiten für mehr Offshore-Wind. Gleichzeitig gebe es Kapazitäten für Photovoltaik und Onshore-Wind. Technisch sei die Eigenversorgung mit erneuerbaren Energien kein Problem.
„Wir leben in einem europäischen System, in dem wir Strom von dort importieren können, wo er gerade am günstigsten produziert wird. In diesem Verbund und mit all den Möglichkeiten, die Polen hat, wäre es sicher kein Problem, sich auch ohne Atomstrom oder mit dem Atomstrom, den es in anderen europäischen Ländern bereits gibt, zu versorgen“, so sein Fazit.
Polen will eigene Reaktoren, das ist eine Tatsache. Mit dem Bau soll 2026 begonnen werden. Atomkraft und erneuerbare Energien schließen sich prinzipiell nicht aus, aber das Kapital ist begrenzt. Unterm Strich gibt es massive Unterschiede in den Technologien, aber das Ziel ist das gleiche: Klimaneutralität. Diese will Polen wie alle anderen EU-Länder erreichen, hat aber mit derzeit fast zwei Dritteln Kohleanteil am Strommix noch einen weiten Weg vor sich - Atomkraft hin oder her.