Nach Kursk-Erfolgen - Die Ukraine ist „hungrig auf mehr“ – und Putin spielt sein ganz eigenes Spiel
In Kursk werden die Kämpfe immer intensiver. Russland versucht seine Bevölkerung nun mit einer Desinformationskampagne zu besänftigen und plant Nadelstiche an einem historischen Datum. Der Ukraine könnte bei der Offensive das Material ausgehen. Gleichzeitig wird sie zu weiteren Aktionen angestachelt.
Im Video oben: „Neue Normalität“: Russland spielt Kursk-Einmarsch herunter und gibt Bürgern ein Versprechen
Es ist ambivalentes Bild, das gerade aus der Region Kursk nach außen dringt: Einerseits hat die Armee der Ukraine durch geschickte Brückensprengungen mehrere tausend russische Soldaten auf ihrem Heimatboden eingekesselt. Andererseits stoßen die Ukrainer nach 16 Tagen auf immer mehr Widerstände bei ihrer Offensive. Sie kommen langsamer als zuvor voran, die Kämpfe mit ihren Gegnern haben sich intensiviert.
Und so müssen sich beide Seiten immer mehr unangenehme Fragen stellen lassen. Auf der einen Seite Russlands Präsident Wladimir Putin, dessen Streitkräften es bislang nicht gelungen ist, die Ukrainer komplett aus dem eigenen Land zu verdrängen. Der Kreml hat einer Analyse des „Institute of the Study of War“ zufolge nun eine Kampagne gestartet, um die Bevölkerung bei Laune zu halten .
Ukrainer in Kursk sind die „neue Normalität“
Demnach sollen die Menschen darauf konditioniert werden, die ukrainische Präsenz in Kursk als „neue Normalität“ zu akzeptieren. Die Bevölkerung solle ermutigt werden, die unvermeidliche Niederlage der Ukrainer in den Ostteilen ihres Landes abzuwarten, danach werde die russische Armee dann Kursk befreien. Die Menschen sollen außerdem mit humanitären Hilfen besänftigt werden. Indem für September geplante Wahlen in der Region nicht abgesagt werden, solle Optimismus verbreitet werden.
„Dieser Versuch entspricht voll der staatlichen Absicht, die öffentliche Meinung bis ins Detail zu regulieren. Dies dürfte teilweise gelingen, denn die Repressionsmittel Putins sind beachtlich“, erklärt Militärexperte Ralph Thiele im Gespräch mit FOCUS online. Die Kursk-Operation sei ein „Stachel in der Selbstwahrnehmung des Putin-Regimes“.
„Putin verfolgt sein eigenes kriegerisches Drehbuch“
Der Oberst a. D. weist darauf hin, dass die russische Kriegsmaschinerie Zeit brauche, „um zu einem umfassenden Gegenstoß gegen die ukrainische Invasion anzusetzen“. Allerdings sei man mittlerweile nicht mehr ganz wehrlos, aus russischer Sicht bedeutsame Abschnitte seien bereits von Putins Kampfverbänden geschützt. Das eröffnet Möglichkeiten, die eigene Offensive in der Ukraine fortzusetzen, ohne dort Truppen abziehen zu müssen. Bei Pokrowsk nordwestlich von Donezk rückt Russland weiter vor.
Einen weiteren Nadelstich zur Ablenkung von der Kursk-Blamage könnte Russland am Samstag setzen – dem ukrainischen Unabhängigkeitstag. Die US-Botschaft in Kiew warnt an diesem Datum vor verstärkten Raketen- und Drohnenangriffen.
„Putin verfolgt sein eigenes kriegerisches Drehbuch“, erklärt Militärexperte Thiele. Darin habe der Unabhängigkeitstag eine symbolische Bedeutung. Insofern seien die Sorgen vor verstärkten Angriffen zwar berechtigt, die Lage drehen würde sie aber nicht.
Westliche Unterstützung in Kursk gut investiert?
Trotz des Husarenstücks in Kursk muss sich auch die Ukraine und Präsident Wolodymyr Selenskyj unangenehme Fragen stellen lassen. Denn durch den verstärkten russischen Widerstand fallen immer mehr Panzer den Kämpfen zum Opfer. „Die westlichen Unterstützer der Ukraine könnten überlegen, ob ihre kostspieligen Hilfsleistungen hier gut investiert sind“, sagt Thiele.
Denn die verkündete Absicht, die ukrainisch besetzten Gebiete in Kursk als Faustpfand für einen territorialen Abtausch zu nutzen „ist wohl tendenziell eine Wunschvorstellung ohne viel Substanz“. Dafür seien die Eroberungen zu klein und unbedeutend – zumindest derzeit.
Die ukrainische Führung ist „hungrig auf mehr“
Denn die Ukraine könnte noch weiter vorstoßen und damit strategisch wichtige Punkte erreichen. Dabei vor allem im Blick: wichtige Eisenbahnknotenpunkte. Sie könnten in die Reichweite ukrainischer Artillerie rücken. „Das russische Militär ist in logistischer Hinsicht stark auf die Eisenbahn angewiesen. Etwa 1450 Kilometer Eisenbahnschienen in Westrussland laufen auf zwei Knotenpunkte in der Region Kursk zu“, erklärt Thiele das Schadenspotenzial für Russland.
Thiele warnt davor, dass die ukrainische Führung übermütig werden könnte. „Der gelungene Husarenstreich in Kursk dürfte die ukrainische Führung hungrig auf mehr gemacht haben. Es ist mit weiteren ambitionierten Versuchen zu rechnen.“
Als solchen kann man auch einen versuchten Durchbruch 240 Kilometer von Kursk entfernt werten. Dort versuchte am Mittwoch Berichten zufolge eine ukrainische Sabotagegruppe in die russische Region Bryansk einzudringen. „Man wir davon ausgehen können, dass ukrainische Streitkräfte derartige Versuche an verschiedenen Stellen wiederholen, nicht zuletzt, um größere Kontingente des russischen Militärs entlang der eigenen Grenze zur Ukraine zu binden“, so Thiele.
Am Ende könnte nur ein kleines Kontingent in Kursk bleiben
Für mehr könnte der Ukraine schlichtweg das Material fehlen. Der Militärexperte weist darauf hin, dass ukrainische Soldaten offenbar erstmals seit längerer Zeit wieder ihre Artilleriegeschütze rationieren müssten. Auch in Kursk werde der ukrainischen Armee irgendwann personell und materiell die Kraft ausgehen.
Was dann noch vom Husarenstück in der Region übrig bliebe? „Ein Verbleib kleinerer Kontingente an gut zu verteidigenden Punkten – zum Beispiel in Sudscha – könnte gegebenenfalls dauerhaft russische Kräfte binden“, schlägt Thiele vor.