Zur Lage der Union: Selenskyjs Versuch, neue Unterstützung zu gewinnen
Seit Wochen blickt Europa besorgt auf seine Wirtschaftsmacht Nummer Eins, Deutschland - genauer gesagt: auf die kränkelnden Autobauer, eine der industriellen Säulen Deutschlands.
Eine schwere Autokrise in der Bundesrepublik, ausgelöst durch einen Quasi-Zusammenbruch des Marktes für Elektrofahrzeuge, könnte schwerwiegende Folgen in der gesamten EU haben.
Drohende Stellenstreichungen in historischem Ausmaß, Werksschließungen bei Volkswagen und Gewinneinbrüche bei Mercedes-Benz und BMW gaben diese Woche Anlass zu einem Krisengespräch im Berliner Wirtschaftsministerium.
Doch angesichts der angespannten Bundesfinanzen und der Zollstreitigkeiten mit China ist der Werkzeugkasten der Regierung eher leer.
Dennoch erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck seine Bereitschaft zu helfen, schloss aber schnelle Lösungen aus: "Alle haben gesagt, Planbarkeit ist das Wichtigste, und zwar langfristige Planbarkeit, keine Strohfeuer. Weil sie nur den Effekt haben, dass der Markt kurzfristig wieder hochgepumpt wird und danach möglicherweise wieder zusammensackt.."
Deutschland ist heute in der unangenehmen Lage, seinen gesamten Produktionssektor neu ausrichten zu müssen, der von der billigen russischen Energie abhängig war.
Man hört schon den ukrainischen Präsidenten Selenskyj rufen: "Das habe ich Euch ja gleich gesagt!"
Selenskyj war diese Woche bei den Vereinten Nationen, um für seinen so genannten "Siegesplan" zu werben.
Er reagierte auch auf die Appelle der europäischen Links- und Rechtsextremen, mit Russland zu verhandeln:
"Wir wissen, dass einige in der Welt mit Putin reden wollen. Wir wissen das. Sie wollen sich treffen, reden, sprechen. Aber was könnten sie schon von ihm hören? Dass er verärgert ist, weil wir von unserem Recht Gebrauch machen, unser Volk zu verteidigen, oder dass er den Krieg und den Terror fortsetzen will, nur damit niemand denkt, dass er im Unrecht war."
Wie sehr die ukrainische Wirtschaft unter dem Krieg leidet, wurde diese Woche in der jüngsten Prognose der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung dargelegt.
Die EBWE/EBRD ist nicht nur für die Ukraine, sondern auch für große Teile Osteuropas und Zentralasiens zuständig. Die Ergebnisse der Bank sind ein wichtiger Indikator für die Weltwirtschaft.
Wir sprachen mit Beata Javorcik, der Chefvolkswirtin der EBRD.
Euronews: Ihr jüngster Bericht über die regionalen Wirtschaftsaussichten trägt den Titel "Auf dem Weg der Anpassung" - das klingt wie eine freundliche Umschreibung für "Es ist enttäuschend". Worauf müssen sich die Volkswirtschaften, in die Sie investieren, einstellen?
Javorcik: Nun, die Situation in Europa ist nach wie vor sehr schwierig. Wir haben weiterhin sehr hohe Energiepreise. Insbesondere der Preis für Erdgas ist fünfmal so hoch wie in den USA. Die Nachfrage nach Exporten, insbesondere aus Deutschland, ist gedämpft. In Anbetracht der schwierigen Lage der deutschen Wirtschaft und der nach wie vor hohen Kosten für die Kreditaufnahme gibt es diese zusätzliche Risikoprämie, diesen zusätzlichen Zinssatz, die die Länder in den Regionen zahlen mussten, als der Krieg in der Ukraine begann. Und diese Risikoprämie ist nach wie vor vorhanden.
Euronews: Auf der Habenseite stehen ein Rückgang der Inflation und ein Anstieg der Reallöhne. Was genau ist passiert?
Javorcik: Nun, im historischen Vergleich haben wir einen sehr schnellen Desinflationsprozess erlebt, obwohl die Anpassung natürlich noch nicht abgeschlossen ist. Die Inflation liegt nach wie vor über dem Niveau vor Beginn der COVID-Pandemie, aber positiv ist, dass es uns gelungen ist, eine harte Landung zu vermeiden. Der Kampf gegen die Inflation ist also ohne größere unangenehme Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit verlaufen. Als die Inflationsepisode begann, sahen wir einen starken Rückgang der Reallöhne, aber dann begannen die Reallöhne aufzuholen. Das war in den letzten Monaten, im letzten Jahr zu beobachten. Sie sind zwar noch nicht wieder auf dem Vor-Corona-Level, aber sie haben auf jeden Fall deutlich aufgeholt.
Euronews: Ich vermute, dass es immer noch einen gewissen Inflationsdruck gibt - wie hoch ist dieser?
Javorcik: In einigen Ländern wie der Türkei oder Ägypten ist die Inflation nach wie vor hoch, sie liegt immer noch im hohen zweistelligen Bereich. Und die Abwertung der heimischen Währungen, die die Importe verteuert hat, hat zu einer weiteren Inflation beigetragen.
Euronews: Ein Land steht immer noch im Rampenlicht: Die Ukraine. Wie kommt das Land mit dem anhaltenden Krieg wirtschaftlich zurecht?
Javorcik: Nun, trotz des Krieges zu Beginn dieses Jahres, also im ersten Quartal, konnte die ukrainische Wirtschaft sehr schnell wachsen. Der Schwarzmeerkorridor ermöglichte der Ukraine den Export von Getreide, Metallen und Erzen. Aber dann kam es zu den schweren Bombardierungen und der Zerstörung der Strominfrastruktur. Dadurch wurde die Lage sehr schwierig. Es kommt zu Stromausfällen. Es gibt Stromengpässe. Das Land importiert Strom aus Europa, aber zu höheren Kosten. Und das belastet auch die Wirtschaft.