Lasst ihn doch reden!

Die Bundesregierung hat dem türkischen Präsidenten verboten, in Deutschland aufzutreten. Politiker von links bis rechts gehen mit ihrer Ablehnung auf Stimmenfang – das wird Erdogan am Ende stärken. Ein Kommentar.

Glauben deutsche Spitzenpolitiker, Türken in Deutschland würden die Reden Erdogans nur dann verfolgen, wenn er sie in Deutschland hält? Glauben Abgeordnete, Erdogan störe den inneren Frieden Deutschlands nur durch Reden hierzulande, nicht aber durch in Ankara ausgesprochene Nazi-Vergleiche?

Nur für den Fall, dass sie das wirklich glauben, ergäbe ein Auftrittsverbot für Erdogan in Deutschland Sinn. Ansonsten ist es reines Wahlkampfgetöse, wenn SPD-Chef Martin Schulz sagt: „Ich will nicht, dass Herr Erdogan, der in der Türkei Oppositionelle und Journalisten ins Gefängnis steckt, in Deutschland Großveranstaltungen abhält“, und CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer nachlegt, türkische Innenpolitik habe „auf deutschem Boden nichts verloren“.

Sie scheinen sich durchgesetzt zu haben: Am Donnerstag gab die Bundesregierung bekannt, einen Auftritt Erdogans zu verbieten. „Da gibt es [eine] verfassungsrechtliche Rechtsprechung, dass wir das auch können“, musste Außenminister Sigmar Gabriel bei seiner Erklärung zum Verbot anhängen.

Warum eigentlich dieser Drang? Es wäre die perfekte Gelegenheit, Erdogan mit einem funktionierenden Rechtsstaat zu konfrontieren. Versammlungsfreiheit, Gegendemo, friedlicher Protest – all das, was in der Türkei schon lange nicht mehr selbstverständlich ist, würde dem türkischen Staatschef in Köln, Dortmund oder an einem seiner gewünschten Orte begegnen.

Stattdessen versuchen Politiker von links und rechts, das letzte Krümel Wählermobilisierung aus Erdogans selbsterklärtem Auftrittsanspruch herauszuziehen. Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht wendet plötzlich dieselbe Rhetorik an wie die vermeintlichen Kontrahenten der CDU/CSU-Fraktion. Jeder Parteifunktionär weiß, dass Erdogan-Ablehnung in der eigenen Wählerschaft gut ankommt.

Dabei ist es nachvollziehbar, dass ein Staatschef auch zu denjenigen Landsleuten sprechen will, die seit Jahrzehnten im Ausland leben. Und den inneren Frieden gefährdet Erdogan nicht nur in Köln oder Karlsruhe, sondern auch dann, wenn er von Ankara aus Hasstiraden Richtung Europa sendet. Die türkische Gemeinschaft in Deutschland ist ohnehin seit Jahrzehnten gespalten, dazu hätte es keinen Erdogan benötigt. Es hat bis vor kurzem bloß niemand gemerkt.

Die abermalige Absage an Erdogan wird diesen im eigenen Land eher stärken als schwächen. Gleiches gilt für seine Wähler in Deutschland und anderen Ländern Europas. Wenn dies Erdogans Kalkül gewesen sein sollte, dann ist es aufgegangen.

KONTEXT

Wann Erdogan schon in Deutschland aufgetreten ist

Erdogan in Deutschland

Der frühere türkische Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat immer wieder den direkten Kontakt zu seinen Anhängern in Deutschland gesucht - und für seine Auftritte viel Kritik geerntet. Ein Rückblick.

Quelle: dpa

10. Februar 2008

Erdogan warnt die Türken in Deutschland vor zu viel Anpassung. "Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sagt er vor etwa 16.000 Anhängern in Köln.

27. Februar 2011

Bei seinem Auftritt vor rund 10.000 Menschen in Düsseldorf fordert Erdogan seine Landsleute zwar auf, sich zu integrieren, lehnt aber erneut eine völlige Anpassung ab: "Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen".

4. Februar 2014

Erdogan wirbt auf einer Veranstaltung unter dem Motto "Berlin trifft den großen Meister" vor etwa 4000 Zuhörern um Stimmen für die bevorstehende Direktwahl des türkischen Präsidenten.

24. Mai 2014

Nach dem Grubenunglück im türkischen Soma kritisiert Erdogan vor etwa 15.000 Anhängern in Köln die Berichterstattung in Deutschland. Erneut wirbt er für die Präsidentenwahl. Zur selben Stunde ziehen 45.000 Gegendemonstranten durch die Innenstadt.

10. Mai 2015

Im Vorfeld der Parlamentswahl in der Türkei fordert Staatschef Erdogan vor etwa 14.000 Anhängern in Karlsruhe, dass sich Menschen mit türkischem Migrationshintergrund integrieren, dabei aber Werte, Religion und Sprache ihrer Heimat bewahren.