Leadership-Profi Kishor Sridhar - Olympia-Sieger Matthias Steiner im Interview: Wir brauchen mehr Freude am Leisten

Pure Emotionen bei Matthias Steiner in Peking 2008<span class="copyright">Getty Images</span>
Pure Emotionen bei Matthias Steiner in Peking 2008Getty Images

Sport und Unternehmertum liegen nicht weit auseinander, vielmehr können Führungskräfte und Mitarbeiter aus dem Leistungssport lernen, sagt Leadership-Spezialist Kishor Sridhar. Er hat mit Matthias Steiner, Olympiasieger im Gewichtsheben, über Leistung, Niederlagen und Erfolgstipps gesprochen.

Kishor Sridhar: Herr Steiner, Sie sind Olympiasieger im Gewichtheben, Weltmeister, Europameister und Inhaber zahlreicher Rekorde. Doch als Führungskräfteentwickler würde mich interessieren, was aus Ihrer Sicht Ihre größten Niederlagen waren?

Matthias Steiner: Ich glaube, die sportliche Niederlage gehörte zum Erfolg dazu. Und das, was heute Elon Musk sagt, dass sein Erfolg auf Niederlagen aufgebaut ist, das ist im Endeffekt eine 1 zu 1 Kopie aus dem Sport. Ohne Niederlagen gibt es im Sport keinen Erfolg. Auch Schicksalsschläge sind Niederlagen. Der Verlust eines geliebten Menschen zum Beispiel.

Kishor Sridhar: Sie sprechen jetzt über den Unfalltod Ihrer ersten Frau.

Matthias Steiner: Genau. Schicksalsschläge und Niederlagen sind durchaus vergleichbar. Damals stand ich davor, komplett aufzugeben. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass manche Menschen mit einem schweren Schicksalsschlag nicht umgehen können und in die falsche Richtung abdriften und sich hängen lassen.

Zuvor war bereits mein Trainer, Walter Legel, verstorben. Er war wie eine Vaterfigur für mich und hat mich in den ersten Jahren geprägt. Er hatte ein Talent in mir gesehen, das damals noch gar nicht offensichtlich war. Ein Jahr später kam dann die Diagnose Typ-1-Diabetes, eine unheilbare Autoimmunerkrankung. Das sind im Endeffekt drei große Schicksalsschläge, als ich um die zwanzig Jahre alt war. Es gibt Situationen im Leben, die einem wirklich den Boden unter den Füßen wegreißen. Da fragt man sich schon, ob das immer so weitergeht.

Aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass das Leben wieder freundlicher erscheint, wenn man proaktiv vorwärtsgeht.

Es gibt für mich nur zwei Wege: stehen bleiben oder weitergehen. Das ist mein Naturell. Wenn etwas passiert ist, muss ich das akzeptieren. Erst wenn ich es akzeptiert habe, kann ich weitermachen. Man muss für den Erfolg brennen, so sehr, dass es weh tut.

 

Kishor Sridhar: Wie gehen Sie aber mit alltäglichen Problemen und Herausforderungen um? Welches Lösungsrezept aus dem Leistungssport würden Sie Führungskräften und Mitarbeitern mitgeben?

Matthias Steiner: Also, wenn die Lösung eines Problems einfach ist, dann ist es meistens keine richtige Lösung. Es bedarf schon ein wenig Hirnschmalz und Nachdenken. Zunächst muss ich herausfinden, was die Ursache des Problems ist. Ist es etwas, das ich direkt ändern kann?

Wenn nicht, dann muss ich es annehmen und einen anderen Weg finden. Dann muss ich für meinen Erfolg und mein Ziel brennen, und zwar so sehr, dass es mir weh tut, wenn ich es nicht erreiche. Es ist schön, wenn ich sage, ich möchte 20 Kilo abnehmen.

Aber wenn das bequem mit einer Spritze oder Tablette geht, ist es kein richtiges Ziel. Da, wo es wehtut, wo der Schmerz ist, da bin ich auf dem richtigen Weg. Das sind die ernsthaften Ziele.

Kinder wollen Leistung erbringen

Kishor Sridhar: Bei den Bundesjugendspielen wurden die leistungsorientierten Urkunden abgeschafft, um vom Leistungsprinzip und Druck hin zu mehr Freude an Bewegung zu kommen. Wie sehen Sie das?

Matthias Steiner: Ich halte es für absolut fatal, das abzuschaffen. Kinder wollen sich messen und Leistung erbringen. Ich habe zwei Söhne, die vor der Pubertät stehen, und bei denen geht es den ganzen Tag ums Messen: Ich will besser, schneller, größer und stärker sein. Dieses natürliche Verhalten darf man den Kindern nicht nehmen.

Zwar bauen wir den offensichtlichen Druck ab, so weit, dass wir teilweise in den ersten Schuljahren kein Bewertungssystem mehr haben. Doch damit verlagern wir den Druck nur. Wir bekommen trotzdem von anderer Seite vermittelt, was wir alles erreichen sollten – ob wir mit einem Cocktail auf Ibiza liegen oder ein schönes Auto fahren sollten. Das wird uns in den sozialen Medien vorgegaukelt und baut den eigentlichen Druck auf.

Früher habe ich entweder Nachrichten geschaut oder nicht – das konnte ich steuern. Heute poppt ständig irgendetwas auf, egal, was ich tue. Es entsteht ein enormer Sozialdruck bei Kindern.

Kishor Sridhar: Jeder wird mal in seinem Beruf kritisiert, aber das geschieht selten öffentlich. Im Sport ist das anders. So hat 2005 der Vizepräsident des österreichischen Gewichtheberverbands über Sie gesagt, nachdem Sie dreimal bei Ihrem Anfangsgewicht im Reißen gescheitert sind: das ist ein erneuter Beweis Ihrer Unsportlichkeit, und dem Vizepräsidenten sei es nun egal, für welches Land Sie künftig starten würden – Schweden, Deutschland, Kasachstan oder Teppichland. Wie geht man mit solch einer öffentlichen Kritik um?

Matthias Steiner: Mit Humor. Mir war klar, dass derjenige, der diesen Satz gesagt hat, deutlich lauter schreit, als er tatsächlich ist. Ich wusste, dass früher oder später niemand mehr über ihn sprechen wird, aber viele Menschen über mich, weil ich Erfolg haben werde. Es war ein amateurhaft strukturierter Verband in Österreich. Das waren einfach Menschen, die sich nach der Arbeit ehrenamtlich getroffen haben, um einen Verband zu führen. Ich war bereits ein Weltklasseathlet – das kann nicht funktionieren. Und da hilft Humor. Öffentliche Kritik an Athleten durch den Trainer wird ohnehin überbewertet.

Kishor Sridhar: Letzte Woche ist viral gegangen, wie der Trainer der Frauenhockeymannschaft Valentin Altenburg bei Olympia Anne Schröder öffentlich angefahren hat, sie solle die Fresse halten und herkommen. Sollte Anne Schröder das auch mit Humor nehmen?

Matthias Steiner: Ich glaube, das von außen zu beurteilen, ist unheimlich schwierig. Wir wissen ja nicht, wie sie grundsätzlich im Trainingsalltag miteinander umgehen. Ob das ständig zum Wortgebrauch gehört oder ob der Trainer das dosiert einsetzt. Ich finde, das ist auch völlig überbewertet. Die Grenze muss dann auch die Athletin am Ende des Tages selbst setzen und sagen, ob es vielleicht zu viel war.

Aber es gibt Situationen im Sport, in denen es einfach notwendig ist, dass der Trainer ein Machtwort spricht. Wie man das ausdrückt, hängt grundsätzlich vom Umgang ab. Bei unserem Bundestrainer Frank Mantek war es immer sehr auf Augenhöhe, und er hat auch viel von den Athleten angenommen, obwohl er einer der erfolgreichsten Bundestrainer im deutschen Sport war.

Er hat mich dann im richtigen Moment auch verbal gemaßregelt, weil ich nicht die maximale Leistung abgerufen hatte.

Das ist notwendig, weil ich als Athlet in diesen Rahmen diese Leitplanken nicht hatte. Ich war verunsichert wie ein Luftballon, der im Raum herumschwirrt und er gab mir mit seiner klaren Ansage eine verbale Ohrfeige. Deswegen finde ich diesen Satz völlig harmlos. Es hat einfach die Öffentlichkeit mitbekommen und heute wird das als unzulässig angesehen.

Kishor Sridhar: Sie sagten, dass Sie auf Augenhöhe mit dem Trainer waren. In der Führungskräfteentwicklung zeigt sich, dass gute Führungskräfte mindestens genauso viel von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lernen wie umgekehrt. Gilt das auch für Trainer?

Matthias Steiner: Ja, unbedingt sogar. Ein großer Trainer ist erst dann ein großer Trainer, wenn er etwas von seinen Athleten annimmt. Er kann natürlich nicht den ganzen Tag auf alle Befindlichkeiten eingehen, sonst wird es zu einem Hühnerstall. Aber zum Beispiel bei mir und Trainer Frank Mantek: Er bekam nicht alles mit, was nach dem Training oder zwischen den Trainingseinheiten in unserer Umkleidekabine stattfand – wo die Sauna war, die heiße Wanne, der Masseur, der Physiotherapeut, und wo auch mal Pizzen bestellt und ein Bier getrunken wurde. Das war eher ein Rückzugsgebiet für die Athleten.

Kishor Sridhar: …wie die Kollegen in der Kaffeküche…

Matthias Steiner: So in etwa. Da bekommt er natürlich gewisse Entwicklungen nicht mit. Ich habe ihm zum Beispiel irgendwann gesagt, als die Leistungen stagnierten: „Wenn es zu gemütlich wird, werden wir zu sanft.“ In unserer Sportart braucht man eine gewisse Grundspannung. Der Trainer hat eine Weile nachgedacht und mir dann recht gegeben. Er hat versucht, Dinge wieder zu ändern. Insofern lernen wir wirklich voneinander.

Wir brauchen mehr Konsequenz im Handeln

Kishor Sridhar: Was würden Sie Ihren Kindern als Tipp mitgeben, um erfolgreich im Leben zu sein?

Matthias Steiner: Konsequenz. So habe ich es von meinen Eltern gelernt. Es war klar: Du gehst zum Sportverein, trainierst dort und danach gehst du als Ministrant in die Kirche. Wenn du als Ministrant in der Kirche bist, gehst du nicht nur am Sonntag zu Hochzeiten, um Geld zu verdienen, sondern auch am Samstagabend zur Messe, um den Pfarrer zu unterstützen.

Als Junge war ich im Fußball relativ erfolgreich, aber als ich in die U12 kam, musste ich das Team wechseln und saß nur noch auf der Ersatzbank. Beim Training hatte ich dann nicht mehr wirklich Spaß und habe das dann irgendwann geschwänzt und spielte lieber mit einem Freund. Meine Eltern fragten mich, ob ich beim Training war. Ich sagte ja. Einmal hat mich meine Mutter zufällig mit meinem Kumpel gesehen, ohne dass ich es wusste. Mein Vater fragte mich dann wieder, ob ich beim Training war, und ich log ihn an. Das fragte er mich drei Mal. Dann gab er mir eine letzte Chance. Wieder log ich ihn an, und dann gab es das schlimmste Donnerwetter meines Lebens. Später sprachen wir darüber und es war alles gut.

Dafür bin ich heute unendlich dankbar. Mein Vater hat mir beigebracht, konsequent zu sein oder es ganz zu lassen. Das sehe ich auch in der Mannschaft meiner Kinder. Oft gibt es Kinder, deren Eltern das Fußballspiel eine Stunde vorher absagen. Das schadet nicht nur dem Trainer, sondern der ganzen Mannschaft. Das bringe ich auch meinen Kindern bei.

Kishor Sridhar: Konsequenz fehlt oft schon in der Erwachsenenwelt, in der Führung und in Unternehmen. Sie versuchen jedoch, diese Werte in der Jugendarbeit von 15- bis 25-Jährigen zu vermitteln und sind Mitgründer einer Stiftung, die den positiven Erfolgsgedanken wieder reinbringen möchte.

Matthias Steiner: Ja, bei der Peak Performer Stiftung geht es um mehr Freude am Leisten. Leisten hat mittlerweile oft einen negativen Touch; es wird mit Anstrengung und Mühe assoziiert.

Wir bieten in unseren Kids-Camps eine Umgebung, in der Kinder und Jugendliche Freude am Leisten erleben können, ohne sich dabei zu quälen. Es gibt auch Projekte, bei denen man kein Sporttalent sein muss, sondern bei denen es darum geht, ein Ziel über ein Wochenende hinweg zu verfolgen.

Es macht Spaß und diese Leistung ist von Erfolg gekrönt. Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass sie Heldinnen oder Helden sein können, darum geht es. Auch Kinder, die wenig mit Sport anfangen können, sind willkommen, solange sie eine Leidenschaft haben. Ob jemand gerne rechnet, malt oder eine andere Passion hat – wichtig ist, dass das Kind wieder für etwas brennt, das es dann auch konsequent verfolgt.

Wir versuchen, das zu vermitteln, auch mit den notwendigen Vorbildern. Wir haben erfolgreiche Sportler wie Magdalena Neuner, unsere Schirmherrin, und Dominik Klein, Handball-Weltmeister, der Handball-Camps leitet, dabei. Die Rückmeldungen der Eltern sind überwältigend. Das ist etwas, was Kinder und Jugendliche heute brauchen.

Wer im Leben immer alle Türen offen hält, wird sein Leben auf dem Flur verbringen

Kishor Sridhar: Ist es diese Konsequenz des Leistungssportlers, die Ihnen auch als Unternehmer weitergeholfen hat?

Matthias Steiner: Ja, denn es gibt einfach zu viele Parallelen. Als Leistungssportler brauchst du ein Ziel, das du konsequent verfolgen musst. Wenn ich jetzt ein Low carb- Unternehmen wie STEINERfood aufbaue, dann hat das auch eine klare Vision. Es geht mir nicht nur darum, möglichst viel Umsatz zu machen. Da gäbe es andere oder einfachere Branchen als die Lebensmittelbranche.

Aber mein klares Ziel ist es, die Low Carb Marke Nr. 1 zu werden und den Lebensmittelmarkt zu verbessern. Ich möchte den Menschen eine größere Auswahl bieten und ihr Wohlbefinden steigern. Das merke ich auch am Feedback der Kunden, die von sich aus schreiben, dass sie abgenommen haben, sich besser fühlen, leichter und angenehmer. Das ist für mich Motivation genug. Auch im Unternehmen gibt es Rückschläge, genau wie im Sport.

Kishor Sridhar: Und wie im Sport geht es in Unternehmen auch um Kennzahlen?

Matthias Steiner: Ja, und manchmal kannst du sie weniger beeinflussen, als du denkst. Im Sport kannst du den Gegner nicht beeinflussen, im Unternehmen nicht die Rohstoffpreise oder die Rohstoffverfügbarkeit. Im Sport ist der Erfolg jedoch klarer messbar. Ich bin Olympiasieger oder nicht, ich bin Weltmeister oder nicht. Vor allem habe ich im Sport gelernt, Entscheidungen zu treffen.

Ich muss auch mal Türen schließen und das ist ein ganz wichtiger Spruch, den ich im Leben anwende: Wer im Leben immer alle Türen offen hält, wird sein Leben im Flur verbringen. Das heißt, wenn ich permanent irgendwo reingehe und dann wieder rausgehe, bewege ich mich immer wieder auf dem gleichen Flur. Wenn ich aber Türen schließe, durch die ich nicht mehr zurück gehen kann, muss ich einen anderen, klaren Weg gehen.

Kishor Sridhar: Zum Abschluss nun ein paar Begriffe. Wozu tendieren Sie: „Leitplanken“ oder „keine Grenzen“?

Matthias Steiner: Ich bin ein Fan von beidem. Ich brauche Leitplanken. Aber eine Leitplanke bedeutet für mich nicht, dass ich eine feste Grenze habe, sondern lediglich einen gewissen Bewegungsspielraum, den ich nach Möglichkeit nicht verlassen sollte. Nach vorne hin habe ich trotzdem keine Grenze.

Grundsätzlich bin ich ein Freund von „keine Grenzen“. Aber Leitplanken tun gut. Wenn der Trainer dann eine klare Ansage macht, wie „halt die Fresse“, ist das eine Leitplanke. Die brauchst du in dem Moment, weil du plötzlich das Gefühl hast, dass du zu frei bist und machen kannst, was du willst. Ich brauche Leitplanken zur Grenzenlosigkeit.

Kishor Sridhar: „Visionen“ oder „Kennzahlen“?

Matthias Steiner: Es ist beides notwendig, aber die Vision kommt zuerst. Ich habe Kennzahlen im Sport, aber auch im Leben; Gewichtheben ist eine Sportart, die auf Kennzahlen basiert. Wenn du über 8 bis 10 Monate für einen Wettkampf trainierst, haben wir auf diesem Weg Kennzahlen. Aber ich brauche vorher die Vision, dass ich 260 Kilo stoßen möchte.

Kishor Sridhar: Das ist wie bei Unternehmen im Change-Prozess. Ich frage dann immer zuerst nach der Vision, und erst danach kommen die Kennzahlen, wie zum Beispiel 20 Prozent mehr Umsatz oder 10 Prozent Kostenreduktion. Es ist toll, dass das Unternehmen Ziele hat, aber den Mitarbeitern fehlt die Vision.

Matthias Steiner: Genau, und damit kommen wir wieder zurück zu Grenzen und Leitplanken. Ich brauche Leitplanken, um grenzenlos zu sein. Ich brauche Ziele für meine Vision. Die Vision, das ist das, was über allem steht.

Kishor Sridhar: Was würden Sie abschließend noch als Erfolgstipps anderen mitgeben?

Matthias Steiner: Ganz wichtig ist: Bei allem, was man tut, ehrlich zu sich selbst sein. Ich glaube, du scheiterst, wenn du dir jahrelang etwas vormachst. Wenn du meinst, etwas erreichen zu wollen, es dir aber unheimlich viel Energie raubt, weil es tief im Inneren vielleicht doch nicht das ist, was du wirklich machen willst. Darum sei ehrlich zu dir selbst. Willst du es wirklich? Wenn ja, dann brenne dafür, setze Konsequenz um und nimm den Schmerz in Kauf.