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Vom Leben an Europas vergessenem Rand: Unterwegs an der EU-Außengrenze

Wie lebt es sich "an Europas vergessenem Rand?" - ARD-Korrespondent Danko Handrick wollte es wissen und spricht im Interview über eine bemerkenswerte TV-Doku, die angesichts der hitzigen Debatte über illegale Einwanderung, Pushbacks und Gewalt gegen Flüchtende zufällig genau zur rechten Zeit kommt.

Alles öde hier - oder etwa nicht? - ARD-Korrespondent Danko Handrick findet, man sollte etwas genauer hinschauen und war zu diesem Zweck im Sommer unterwegs an Europas langer Außengrenze. Sein Film
Alles öde hier - oder etwa nicht? - ARD-Korrespondent Danko Handrick findet, man sollte etwas genauer hinschauen und war zu diesem Zweck im Sommer unterwegs an Europas langer Außengrenze. Sein Film

Vermutlich haben die meisten beim Gedanken an den äußersten Osten Europas direkt ein paar Klischees im Kopf - und keine Illusion: Aus mitteleuropäischer Sicht ist es gefühlt das Ende der Welt. Ein Vorurteil über die Regionen entlang der osteuropäischen EU-Außengrenze, das auch dem ARD-Korrespondenten Danko Handrick bekannt ist. Doch wie lebt es sich wirklich "an Europas vergessenem Rand?"

Der Leiter des ARD-Fernsehstudios Prag wollte es herausfinden und machte sich auf die Reise: Vier Wochen war er im zweiten Corona-Sommer mit dem Wohnmobil zwischen Baltikum und Schwarzem Meer unterwegs - um "mit Vorurteilen aufzuräumen", wie er im Interview durchblicken lässt. Handricks 90-minütiger Dokumentarfilm "Europas ferner Osten: Eine Reise entlang der EU-Außengrenze", der am Freitag, 22. Oktober, 20.15 Uhr, bei Phoenix läuft und auch in der ARD-Mediathek zu sehen ist, ist nicht nur von aufregenden Bildern von noch weitgehend unbekannten Sehnsuchtslandschaften geprägt, sein TV-Abenteuer ist vor allem ganz nah bei den Menschen, von denen es erzählt.

Pushbacks und Gewalt gegen Flüchtlinge

In der besten Tradition von Filmen aus der Hand journalistischer Schwergewichte wie Wolf von Lojewski, Dirk Sager, Klaus Bednarz oder des vor wenigen Tagen verstorbenen Gerd Ruge, setzt der aus der Lausitz stammende Autor auf die persönliche Begegnung und lässt seinen Protagonisten mit ihren Geschichten genügend Raum, um nachhaltig zu wirken. Ob beim Gulasch am offenen Feuer in Ungarn oder bei der Bootsfahrt mit einem alten Fischer an Bulgariens Schwarzmeerküste: Hier menschelt es überall - die Politik wird eher über den Subtext und als Kulisse erzählt. Angesichts der aktuellen Schlagzeilen um Pushbacks und Gewalt gegen Flüchtende ist es ein durchaus wohltuender Ansatz, einmal derart konzentriert auf die Lebenswirklichkeiten vor Ort zu blenden. "Ich habe keine einzige Situation erlebt, in der die Menschen nicht aufgeschlossen waren", berichtet Handrick. "Im Gegenteil - wir wurden sehr oft spontan nach Hause eingeladen. Die Menschen hat es gefreut, dass sich jemand für ihre Geschichte interessiert."

teleschau: Sie waren im Sommer an der 4.500 Kilometer langen Außengrenze der EU unterwegs. Mit welcher Intention unternahmen Sie die Reise?

Danko Handrick: Wir alle reden oft über Europa, aber der Blick geht dabei meistens in den Westen, ins Zentrum. Über unsere Nachbarn im Osten und Südosten wissen wir nicht so viel, und noch viel weniger über die Gebiete ganz am Rand der EU, entlang der Ost-Außengrenze. Für uns war deshalb der Weg das Ziel. Wir wollten spontan Menschen kennenlernen und deren Geschichte erzählen. Die Frage, die für uns zentral war: Sind die Regionen entlang der EU-Außengrenze für die Menschen, die dort leben, der Anfang oder das Ende der EU? Fühlen sie sich am Rand, vergessen? Es sind ja Gegenden, in die man als Tourist nicht unbedingt fährt. Ein Pfarrer in der Slowakei erzählte uns zum Beispiel, hier sei "das Ende der Welt".

teleschau: Wo hat es Ihnen am besten gefallen?

Danko Handrick: Landschaftlich und kulturell hatte jede Etappe ihren Zauber. Auf manches waren wir vorbereitet - die Schwermut der ungarischen Puszta etwa. Anderes war auch für uns ganz neu. Wer würde schon im katholischen Polen jahrhundertealte Moscheen erwarten und eine Gemeinschaft tatarischer Moslems im besten Auskommen mit den christlichen Nachbarn? Eines aber war überall gleich: die Gastfreundschaft, die Spontanität der Menschen. Man spürte, dass sich Fernsehteams in viele dieser Gegenden nicht oft verirren. Deswegen wurden wir immer sehr herzlich aufgenommen, die Menschen war sehr offen und haben bereitwillig mit uns über ihre Ängste und Hoffnungen gesprochen.

 

"Brüssel wurde oft als Gegengewicht und Hoffnung wahrgenommen"

teleschau: Was halten die Menschen in den Regionen zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer von der EU?

Danko Handrick: Bei sehr vielen hörten wir ein klares Bekenntnis zur EU, das hat mich schon gewundert. Man könnte ja glauben, dass man sich so am Rand vielleicht stiefmütterlich behandelt oder vergessen fühlt, da ja die Hauptstädte weit weg liegen. Aber sehr oft war genau das Gegenteil der Fall. Oft fühlten sich die Menschen eher von ihren eigenen Regierungen an den Rand gedrängt - Brüssel wurde da oft als Gegengewicht und Hoffnung wahrgenommen.

teleschau: Stießen Sie als deutschen Reporter auch auf Ressentiments?

Danko Handrick: Ich habe keine einzige Situation erlebt, in der die Menschen nicht aufgeschlossen waren. Im Gegenteil - wir wurden sehr oft spontan nach Hause eingeladen. Die Menschen hat es gefreut, dass sich jemand für ihre Geschichte interessiert. Und selbst in den ärmeren Regionen, in Rumänien oder in Bulgarien, hat mich die Zuversicht der Menschen begeistert. Was uns immer wieder gesagt wurde: Wir sollten doch bitte mit Vorurteilen aufräumen. Der Südosten der EU als Heimat von Kleinkriminellen und Autoschiebern - dieses Bild werde ihrer Heimat überhaupt nicht gerecht. Diese Botschaft ist den Menschen dort ganz wichtig.

Wo Folklore noch gelebt wird: ARD-Korrespondent Danko Handrick war unterwegs in den Regionen entlang der EU-Außengrenze. (Bild: Phoenix / ARD-Studio Prag)
Wo Folklore noch gelebt wird: ARD-Korrespondent Danko Handrick war unterwegs in den Regionen entlang der EU-Außengrenze. (Bild: Phoenix / ARD-Studio Prag)

 

Reisen wir zu selten in diese Regionen?

teleschau: Die östliche EU-Außengrenze ist derzeit vor allem aufgrund der Migrationsproblematik in den Schlagzeilen. Wegen der hohen Zahl illegaler Einreisen sind aktuell sogar wieder Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze im Gespräch. Was halten Sie davon?

Danko Handrick: Eine Grenze könne keine Probleme lösen, sagten mir schon während der Fahrt Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze. Als wir die Reise gemacht haben, war das Problem noch nicht so akut. Doch im Grenzgebiet hat man sich schon immer mit Migrationsfragen auseinandersetzen müssen. Die Regionen haben viele Flüchtlinge aus der Ukraine oder Belarus aufgenommen.

teleschau: Haben Sie eine Idee, wie das gegenseitige Verständnis gefördert werden könnte? Reisen wir einfach zu selten in diese Regionen?

Aufregende Bilder vom gefühlten Ende der Welt: Danko Handrick hat jede Menge solcher Impressionen eingefangen. (Bild: Phoenix / ARD-Studio Prag)
Aufregende Bilder vom gefühlten Ende der Welt: Danko Handrick hat jede Menge solcher Impressionen eingefangen. (Bild: Phoenix / ARD-Studio Prag)

Danko Handrick: Ganz bestimmt. Ich war zum Beispiel vorher auch noch nie in Rumänien, kannte das Land nur aus dem Fernsehen. Doch das Land ist wesentlich vielfältiger, als es aus den Nachrichten erscheinen mag. Gleich hinter der Grenze wunderschön renovierte Häuser, das entsprach gar nicht dem Bild, das ich aus dem Fernsehen hatte. Im Film sehen sie dann auch, was dahintersteckt.

teleschau: Sie wurden im September als ARD-Korrespondent in Tschechien von einer Pressekonferenz mit dem tschechischen Premierminister Andrej Babis und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ausgeschlossen. Die ARD protestierte daraufhin aufs Schärfste gegen die "Einschränkung der Pressefreiheit". Wie ist Ihre Situation aktuell?

Danko Handrick: Tschechien hat ein neues Parlament gewählt, ganz knapp die Regierung Babis abgewählt. Damit wird sich auch im Umgang mit den Medien im Land viel ändern. Die Debatte über die Freiheit der Medien führt das Land ja schon seit Jahren. Dass diese Debatte in den Medien offen geführt werden kann, zeigt aber, dass es in der tschechischen Medienlandschaft trotz aller Unzulänglichkeiten noch keine polnischen oder ungarischen Verhältnisse gibt.

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