"Wir leben nicht in einer gerechten Gesellschaft"

Es geht um Liebe, Sex und soziale Gerechtigkeit: Schauspieler Fabian Hinrichs, bekannt unter anderem als Kommissar Voss aus dem Franken-"Tatort", findet im Interview klare Worte, wenn es um die gesellschaftliche Relevanz seiner Arbeit geht.

Vom Jurastudium auf die Schauspielschule: So einen exotisch anmutenden Weg schlägt man nicht einfach so ein, um sich auszuprobieren, oder aus anderen spätpubertären Beweggründen heraus. Nein, man kann diesen radikalen Schritt nur mit vollem Bewusstsein und ganzer Wucht gehen. Fabian Hinrichs, der Vollblutschauspieler, der einst ein mehr als nur passabler angehender Jurist war, erklärt, er habe "rechtzeitig eingesehen, dass mein Leben zu kurz ist, um meine Zeit mit Rechtsstreitigkeiten zu vergeuden". Was natürlich lapidarer klingt, als er es eigentlich meint. Denn wenn der 46-Jährige über seinen Beruf spricht, dann mit der ganzen Klarheit und Leidenschaft eines Künstlers, der genau um die Bedeutung seines Berufes und die Größe seiner Aufgabe auch im gesellschaftlichen Kontext weiß. "Als Schauspieler bin ich Patient und Arzt zugleich", philosophiert der aus Hamburg stammende Wahlberliner, der seit fünf Jahren als Hauptkommissar Felix Voss im Franken-"Tatort" ermittelt. Im nächsten Nürnberger Fall ("Die Nacht gehört dir", Sonntag, 1. März, 20.15 Uhr, ARD) geht es um die Liebe im Allgemeinen und die Gefahren des Casual-Datings im Besonderen. Versteht sich, dass Hinrichs zu beidem eine dezidierte Meinung hat.

teleschau: Warum sitzen Sie heute eigentlich nicht in einer schicken Großstadtkanzlei und erfreuen sich eines Daseins als gut bezahlter Anwalt mit Sportwagen und Luxusleben?

Fabian Hinrichs: (lacht) Gemeine Frage. Aber es stimmt natürlich: Ich hätte es als Jurist vielleicht irgendwohin bringen können. Wer weiß. Meine Noten waren sogar sehr gut, interessanterweise wurden sie damals immer besser, je weniger ich in der Uni war ... Warum alles doch ganz anders kam, hat mit dem großen Gleichmacher zu tun: Der Tod in seiner Unausweichlichkeit ist der einzige wahre Bezugsrahmen unseres Lebens, und ich habe rechtzeitig eingesehen, dass mein Leben zu kurz ist, um meine Zeit mit Rechtsstreitigkeiten zu vergeuden. Damit will ich nichts gegen Juristen gesagt haben: Sie verwirklichen den Rechtsstaat und sind unverzichtbar. Es war nur nicht mein Weg.

teleschau: Sie wechselten aus dem Jurastudium an die Folkwang Universität der Künste in Bochum. Ging es Ihnen damals um die Freiheit?

Hinrichs: Ja, wahrscheinlich schon. Andererseits wäre mir Freiheit im Sinne von Verwirklichung von Träumen oder Restträumen allein ein zu einseitiger Grund. Dahinter wird es komplizierter und sehr intim, denn der Entschluss, den Weg in die Kunst einzuschlagen, hat immer auch mit Leiden zu tun. Für mich steckt daher auch beides in diesem Beruf: Als Schauspieler bin ich Patient und Arzt zugleich. Aber bevor Sie nun nachfragen: Man sollte dieses Thema nicht mit Pathos überladen. Die oft von Fehlversuchen geprägte Zeit der Berufswahl ist ja nichts anderes, als der ohnehin zum Scheitern verurteilte Versuch, das Chaos des Lebens in geordnete Bahnen zu bringen. Auch wenn gewisse Routinen, die wir im Schauspielberuf auch kennen, etwas für sich haben: Diese große Ordnung, nach der alle streben, gibt es nicht.

teleschau: Jedenfalls passt diese Arbeit besser zu Ihnen als der Zehnstunden-Job in einer Kanzlei, oder?

Hinrichs: Ja, klar. Aber auch der Schauspieler kennt Zwänge: Ich muss mich zum Beispiel an Drehpläne und Drehbücher halten. Nur kann ich weitgehend bestimmen, von wem und in welchem Maß ich mir diese Zwänge auferlegen lasse und was ich in den Zeiträumen zwischen den Produktionen mache. Diese Selbstbestimmtheit entspricht meinem Wesen, sie fühlt sich sehr gut an.

teleschau: Dass Sie seit fünf Jahren "Tatort"-Kommissar in Franken sind, dürfte Ihrer Unabhängigkeit auch nicht geschadet haben ...

Hinrichs: Nein, aber was das Finanzielle angeht, war ich schon länger mehr oder weniger unabhängig - vor allem durch meine Theaterarbeit: Ich spiele ja nicht nur, ich führe auch Regie und produziere, manchmal schreibe ich auch etwas. Insofern bin ich auf das Filmemachen nicht unbedingt angewiesen. Es ist ganz einfach: Ich mache den "Tatort", weil ich ihn mag. Und weil es eine Riesenherausforderung ist, angesichts der enormen Öffentlichkeit von jeweils acht, neun Millionen Zuschauern gute Filme zu realisieren. Fern von allen auch verständlichen Formatgedanken wollen wir Filme schaffen, die für sich stehen können.

"Zuerst war da Dagmar Manzel"

teleschau: Was gab den Ausschlag, dass Sie sich für das Franken-"Tatort"-Team engagieren ließen?

Hinrichs: Zuerst war da Dagmar Manzel: Zwischen uns hat es auf Anhieb klick gemacht, wir freuen uns jedes Mal aufeinander, wenn wir miteinander arbeiten dürfen. Und dann ist da natürlich diese Region. "Das ist nicht erdacht, das habe ich erwandert", schrieb Goethe - in diesem phänomenologischen Sinne wollte ich Franken unbedingt kennenlernen und erleben, und ich wurde nicht enttäuscht. Vorher kannte ich nur Nürnberg, nun weiß ich: Auch sonst gibt es in Franken viele Ecken zum Niederknien - zum Beispiel Bamberg. Dass ich mein Leben auf diese Weise bereichern darf, sehe ich als ein Privileg meines Berufs an.

teleschau: Die Region war vor dem "Tatort" im Grunde Fiction-Diaspora ...

Hinrichs: Ja, leider. Wie das Sauerland oder beispielsweise einige norddeutsche Gegenden auch. Entsprechend stolz und aufgeregt erleben wir die Leute in Franken - uns schlägt überall eine beinahe enthusiastische Atmosphäre entgegen, was beim Drehen nicht schaden kann. Es ist anders als in München oder Berlin, wo man einem Filmteam auch schon mal mit einem genervten Kopfschütteln begegnet, nur weil mal die Straße für drei Minuten blockiert ist.

teleschau: Sie kommen aus einer Polizistenfamilie. Hilft Ihnen das irgendwie bei der Arbeit als TV-Kriminaler?

Hinrichs: Ja, ich komme aus einer Exekutivfamilie - bis auf zwei Erfinder, die die Ausnahme darstellten, war man bei uns entweder bei der Polizei oder beim Militär. Das half mir nun als "Tatort"-Schauspieler aber nur insofern, als dass ich keine Scheu vor dem Beruf des Polizisten hatte - im Milieu kannte ich mich einigermaßen aus. Mein Anspruch ist es jedoch nicht, die reale Polizeiarbeit abzubilden, sondern es geht darum, eine neue, filmische, ästhetische Realität zu schaffen. Wenn ich mich so verhalten würde, wie es echte Ermittler tun, würde ich als Kommissar 88 von 90 Minuten am Computer sitzen - es wäre der zuschauerunfreundlichste Film aller Zeiten, und mich würde man nach einer Episode entsorgen (lacht). Ich muss also nicht einen möglichst authentischen Polizisten verkörpern, sondern das einer Ermittlung innewohnende Wesen, den Kern des Polizistseins treffen.

teleschau: Woraus besteht dieser Kern?

Hinrichs: Das ist der springende Punkt: Es gibt nicht den Polizisten und nicht den Polizeialltag - das ist immer individuell, es geht also immer um das Einzelne im Vielen. Je mehr der Zuschauer über eine Figur weiß, desto intensiver wird er ihr folgen. Es bleibt aber ein Balanceakt: Natürlich darf man die Figur nicht zukleistern mit irgendwelchen pathologischen Wesenszügen. Es muss genügend Projektionsfläche für die Fantasie bleiben.

teleschau: Voss flirtet im neuen Fall mit einer netten Marktfrau!

Hinrichs: (lacht) Ja, mal schauen, wie es sich entwickelt. Er begegnet zumindest für einen Moment einem Versprechen auf etwas, das ihn aus seiner Einsamkeit holt. Bisher war Voss ja der eher bedauernswerte Zugereiste, der alleine in Nürnberg lebt ... "Allein in Nürnberg" - das wäre eigentlich mal ein schöner Filmtitel!

"Bin als glücklich verheirateter Vater ja längst vom Markt"

teleschau: Der Film dreht sich um diese Dinge: die Einsamkeit, die Sehnsucht nach Liebe und die mithin verheerenden Folgen der Leidenschaft. Was wussten Sie vorher über "Casual Dating"?

Hinrichs: Wenig. Ich bin als glücklich verheirateter Vater ja längst vom Markt. Aber natürlich kennt man diese Datingplattformen schon wegen der aufdringlichen Werbung. Nur solche reinen Sex-Portale, wie jene, auf denen sich das Opfer im Film offenbar auch bewegt hat, waren mir nicht bekannt. Offenbar hat so etwas bei vielen Leuten das Kennenlernen, wie es einmal üblich war, abgelöst.

teleschau: Mit welchen Folgen?

Hinrichs: Meiner Meinung nach verhindert es das Zustandekommen von Liebe. Liebe gründet auf den Moment des Zufalls: Da ist ein Zufall, den zwei Menschen festhalten möchten, ja, festhalten müssen, um darauf ihren eigenen, intimen Mythos zu begründen. Es entsteht "eine Ewigkeit in der Zeit", wie es der französische Philosoph Alain Badiou so wunderbar beschrieben hat. Der Algorithmus erzeugt hingegen das genaue Gegenteil: Es geht darum, den Zufall auszuschließen. Auf den Portalen bewegt man sich in einer binären Welt, die mit Liebe wohl nicht viel zu tun hat.

teleschau: Aber immerhin geht es auch beim Online-Dating darum, jemanden zu treffen.

Hinrichs: Ja, aber es ist zu kalkuliert, also er- und berechnet. In der Liebe erfährt man die Begegnung mit einer Differenz. Im Netz ist es aber wie beim Shoppen: Man wischt übers Handy und sucht nach dem besten Produkt, dann wird bestellt. Wenn sich die Ware dann doch nicht als ganz so perfekt erweist oder kleine Mängel hat, schickt man den Karton eben retour.

teleschau: Ist das jetzt nicht zu fatalistisch?

Hinrichs: Na ja, ich will das Phänomen Online-Dating nicht diffamieren. Ich verstehe Menschen, die auf diese Weise versuchen, der Hölle der Einsamkeit zu entkommen. Aber ich fürchte, dass uns das zumindest in der im Film gezeigten extremen Form als Gesellschaft nicht guttut - genau wie uns das Smartphone, das es ja erst seit gut zehn Jahren gibt, nicht gutgetan hat. Die interpersonelle Form der Begegnung, seit Menschengedenken die einzige bekannte, wird auf einmal ersetzt durch autistisches Verhalten und eine planmäßige, marktbezogene Form des Kennenlernens: Liebe und Sex werden zum Produkt, von dem man sich recht schnell wieder verabschieden kann.

teleschau: Und dennoch ist so etwas in Mode ...

Hinrichs: Ja, komisch. So unromantisch das alles ist, es passt, muss man leider sagen, in die Zeit: Wir agieren in allen Lebensbereichen immer marktförmiger. Was oder wer Mängel hat, wird aussortiert. Das ist in das Subjekt verlagerte ökonomische Theorie.

teleschau: Sind Sex-Portale grundsätzlich gefährlich?

Hinrichs: Ich kenne mich damit ja nicht aus, aber wahrscheinlich schon. Grundsätzlich ist es immer gefährlich, wenn man sich zum ersten Mal trifft und dann sehr schnell intim wird, ohne sein Gegenüber genauer zu kennen. Nur haben wir es mit einer Form des Verabredens zu tun, bei der es genau darum geht: anonyme Sex-Treffen. Das mag man als prickelnd empfinden, es birgt aber auch eine gewisse Gefahr. Ja, in der Werbung sieht das alles immer sehr ansprechend aus, aber die Wahrheit ist mithin hässlich. Es ist aber wiederum eine schöne Aufgabe für die Kunst und für einen Film wie unseren, dem nachzugehen.

teleschau: Sie sind wohl kein ausgewiesener Smartphone-Junkie, oder?

Hinrichs: Ich besitze momentan nicht mal eines. Das hat wohl wieder mit dem Tod zu tun: Ich versuche, meine knappe Zeit mit anderen Dingen zu verbringen, muss nicht ständig auf allen Kanälen erreichbar sein. Es ist ansonsten reiner Selbstschutz: So werde ich nicht in etwas hineingesogen, was mich eigentlich gar nicht interessiert. Mir tut das gut. Aber ich bin da wohl schon recht exotisch, stelle ich fest. Die Leute sind erschrocken, schauen mich an wie einen Handtaschendieb, wenn ich mal wieder irgendwo nach dem Weg frage - entweder weil sie mich erkennen oder weil sie es nicht fassen können, gerade den letzten Mohikaner ohne Google-Maps begegnet zu sein. Viele Leute sind es nicht mehr gewohnt, von Fremden angesprochen zu werden.

"Wir Schauspieler taugen nicht als Gegenpol"

teleschau: Sie sagten vor vielen Jahren, dass Sie es kurios fänden, wie viel Gehalt manche Schauspieler bekommen: "Da verdienen manche, die einen Polizisten spielen, an einem einzigen Tag so viel wie mein Vater, der tatsächlich Polizist war, in drei vier Monaten." Haben Sie heute ein schlechtes Gewissen gegenüber Ihrem Vater?

Hinrichs: Nein. Ich muss das Zitat wohl ein wenig revidieren: Meinem Vater geht es zumindest in dieser Hinsicht sehr gut - er war Beamter, da hat man gerade auch im Alter keinerlei Unsicherheitsgefühl zu ertragen. Diese Berufsgruppe ist sicher nicht zu bemitleiden. Das Thema hat aber nach wie vor Bestand: In unserer Gesellschaft sind die finanziellen Mittel sehr unfair verteilt. Wir leben nicht in einer gerechten Gesellschaft, und das gilt es zu sehen, zu erkennen.

teleschau: Was konkret prangern Sie an?

Hinrichs: Der Pranger ist für mich kein besonders anziehendes Werkzeug der Kritik. Aber ich denke ernsthaft, jeder Pfleger, jede Krankenschwester, jeder Erzieher, jeder, der so intensiv mit und für Menschen arbeitet, müsste locker das Vierfache verdienen, wenn es gerecht zugehen soll. Auch Geisteswissenschaftler verdienen zu wenig. Nur wir Schauspieler taugen nicht als Gegenpol. Zwar gibt es auch da Auswüchse, und ich bin gegenüber einer Krankenschwester sicherlich privilegiert, aber grundsätzlich werden Schauspieler und Schauspielerinnen nicht üppig entlohnt: Die Hälfte verdient etwas über 15.000 Euro Brutto pro Jahr, 70 Prozent unter 30.000 Euro, soweit ich weiß. Die Beispiele, die ich heute nennen würde, stammen aus der Finanzökonomie: Unternehmensberater, Banker, Börsen- oder Immobilienspekulanten und sicherlich auch Juristen ... Natürlich regelt hier der Markt die Verhältnisse, dennoch könnte man, finde ich, am ehesten in diesen oft überbezahlten Bereichen etwas abzwacken, um insgesamt für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.