Linda Zervakis im Interview: "Ein Leben ohne KI wird es nicht mehr geben"

In ihrer Reportage "ProSieben Thema: Kann KI die Demokratie retten?" widmet sich Linda Zervakis der Künstlichen Intelligenz - und ihrer möglichen Rolle in der Politik. Dafür ließ sie sich zunächst mal in ihren eigenen Avatar verwandeln. (Bild: Seven.One/Claudius Pflug)
In ihrer Reportage "ProSieben Thema: Kann KI die Demokratie retten?" widmet sich Linda Zervakis der Künstlichen Intelligenz - und ihrer möglichen Rolle in der Politik. Dafür ließ sie sich zunächst mal in ihren eigenen Avatar verwandeln. (Bild: Seven.One/Claudius Pflug)

In ihrer ersten großen "Thema"-Doku bei ProSieben begibt sich Linda Zervakis auf eine Reise durch die Republik - begleitet von ihrem eigens erschaffenen Avatar namens "KI-Linda". Die 49-Jährige stellt die provokante Frage: "Kann KI die Demokratie retten?

Linda Zervakis hat sich klonen lassen. Zwar nicht aus Fleisch und Blut, aber in Form eines digitalen Avatars, der die 49-jährige Journalistin auf einer Deutschlandreise in Sachen Künstliche Intelligenz begleitet. Der neue Film der ehemaligen "Tagesschau"-Sprecherin hört auf den Namen "ProSieben Thema: Kann KI die Demokratie retten?" (Dienstag, 20. August, 20.15 Uhr, ProSieben). Sie stellt vor den wichtigen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die provokante Frage, ob Künstliche Intelligenz bessere Entscheidungen treffen würde als gewählte Politiker. Zervakis' Film ist aber auch eine Bestandsaufnahme dessen, was KI heute schon kann, wovor wir Angst haben sollten, aber auch wo diese Angst vielleicht unberechtigt ist. Und doch geht es auch ums Persönliche. Wie fühlt man sich, wenn ein digitales Abbild von einem geschaffen wird, das schon auch ein Eigenleben zu führen scheint, Linda Zervakis?

teleschau: Für Ihre Doku ließen Sie sich in einen Linda Zervakis-Avatar verwandeln. Wie viel Angst hatten Sie davor?

Linda Zervakis: Ich hatte vorab gemischte Gefühle. Dann aber ist genau das eingetreten, was ich mir erhofft hatte: Meine Angst vor der KI hat sich durch die Beschäftigung mit ihr relativiert. Ich sehe die Gefahren, aber ich sehe jetzt auch ganz klar die Chancen. Die Künstliche Intelligenz ist da, sie wird bleiben, und sie wird vieles verändern. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns mit ihr auseinanderzusetzen. Natürlich kann man mit KI Schlechtes tun. Wie mit allen neuen Erfindungen. Doch warum muss man sich immer auf die negativen Aspekte konzentrieren? Ich hatte Lust, auf Entdeckungsreise zu gehen. Mit dem Wunsch, mit der Technik zu arbeiten - und vor allem: auf anständige Weise zu arbeiten.

teleschau: Nun stellt Ihre Doku die Frage, ob eine KI die bessere Politik machen würde. Was kann KI heute schon besser als menschliche Politiker?

Linda Zervakis: Eine KI ist erst mal nur so gut wie die Menschen, die sie programmieren. Wir bestimmen, in welche Richtung es geht. Es gibt schon heute Anwendungen, die ich interessant finde. Zum Beispiel Programme, die Politikersprech in verständliche Sprache übersetzen. Es ist faszinierend, wie gut das funktioniert. Es hat mich auch begeistert, weil man daran sehen kann, wie hilfreich eine solche KI im Alltag sein kann. Nur vor der Avatar-Geschichte hatte ich großen Respekt. Weil so ein zweites, künstliches Ich in gewisser Weise meiner Kontrolle entzogen ist. Ich musste mich auf das Team verlassen.

Für ihren Film "ProSieben Thema: Kann KI die Demokratie retten?" ließ sich Journalistin Linda Zervakis klonen. Zwar nicht aus Fleisch und Blut, aber in Form eines digitalen Avatars - der erschreckend echt sprach und handelte. Wie geht es ihr damit? (Bild: Seven.One/Claudius Pflug)
Für ihren Film "ProSieben Thema: Kann KI die Demokratie retten?" ließ sich Journalistin Linda Zervakis klonen. Zwar nicht aus Fleisch und Blut, aber in Form eines digitalen Avatars - der erschreckend echt sprach und handelte. Wie geht es ihr damit? (Bild: Seven.One/Claudius Pflug)

"Sie lebt erst mal auf dem Computer-Bildschirm"

teleschau: Wie hat man Ihren Avatar erschaffen?

Linda Zervakis: Ich ging in eine Green-Box und wurde erst mal über 360 Grad rundum gescannt. Danach fütterten wir die Sprache des Avatars: Da habe ich einmal seriös gesprochen, so wie man es aus der "Tagesschau" kennt. Danach ging ich über in Alltagssprache. Dafür wurden auch alte Interviews und Podcasts ins Programm aufgenommen. Auf diese Weise entstand eine dreidimensionale Figur, die so aussah und sprach wie ich. Daran muss man sich erst mal gewöhnen.

teleschau: Hat Sie es erschreckt - oder waren sie eher amüsiert?

Linda Zervakis: Beides, aber nach dem ersten Schrecken eher amüsiert. Anfangs war die KI noch ein bisschen roboterhaft, aber sie lernte schnell dazu. Wir haben Anfang Mai mit dem Drehen begonnen, und seit dieser Zeit wurde der Avatar immer weiterentwickelt. Inzwischen ist es so, dass ich dessen Existenz nicht mehr hinterfrage. Wir haben die KI-Linda gerade drei sehr unterschiedlichen Testpersonen in einer Berliner Kneipe vorgeführt. Die waren alle völlig perplex, wie echt diese Linda wirkt.

teleschau: Was können Sie - was kann man - jetzt mit dieser KI-Linda anfangen?

Linda Zervakis: Sie lebt erst mal auf dem Computer-Bildschirm. Dies aber auf verblüffend selbstständige Weise. Man kann sie jederzeit ansprechen, sie Dinge fragen. Die KI-Linda bewegt sich auf dem Bildschirm wie eine echte Person und antwortet, wie auch ich selbst es vermutlich tun würde. Zumindest ist sie sehr nah dran. Programmiert wurde sie auf politische Fragen, aber man kann sich mit ihr auch über andere Dinge unterhalten. Zum Beispiel übers Wetter. Wir mussten zwischendurch immer wieder über meinen Avatar lachen, weil er teilweise Redewendungen draufhatte, die uns begeisterten (lacht).

Linda Zervakis, 1975 in Hamburg als Tochter griechischer "Gastarbeiter" geboren, arbeitete nach dem Abitur drei Jahre als Werbetexterin, sie begann ein Volontariat beim NDR begann und später beim Sender Karriere. Im Mai 2013 wurde sie Nachfolgerin von Marc Bator als Sprecherin der Hauptausgabe der Tagesschau, die erste mit Migrationshintergrund. (Bild: Screenshot Facebook / Linda Zervakis)

"Viele Dinge, vor denen wir Angst hatten, haben unser Leben extrem erleichtert"

teleschau: Lernt man beim Gespräch mit dem eigenen Avatar etwas über sich selbst?

Linda Zervakis: Man lernt auf jeden Fall, welche Anweisungen man geben muss, um dahin zu kommen, wo man hinmöchte. Das kennt man ja von Sprachassistenten. Alles, was mit Seele zu tun hat, kann mein aktueller Avatar nicht. Das gibt die KI-Linda auch zu. Darüber bin ich wirklich froh. Es reicht schon, dass man anfangs damit klarkommen muss, dass es eine täuschend echte Kopie von einem selbst noch einmal gibt. Im Inneren des Computers. Den Schritt bin ich jetzt schon mal gegangen. Vielleicht wird das irgendwann selbstverständlich werden. Für viele Menschen.

teleschau: Haben Sie Angst davor?

Linda Zervakis: Es gab immer diese großen Schritte in der Menschheitsgeschichte, bei denen man dachte, dass wir Menschen überflüssig geworden sind. Das war schon so, als die Dampfmaschine erfunden wurde. Oder das Internet. Immer haben sich Menschen gefragt: Werde ich noch gebraucht, bin ich austauschbar? Durch KI stellen sich diese Fragen neu. Was hätte ich vor meinen Abiprüfungen oder beim Studium für Wikipedia gegeben? Oder für eine Internetrecherche. Viele Dinge, vor denen wir Angst hatten, haben unser Leben extrem erleichtert und verbessert. Ich denke, auch bei der KI überwiegen die Vorteile. Wir müssen kritisch bleiben, uns aber auch darauf einlassen. Weil es ein Leben ohne KI nicht mehr geben wird.

teleschau: Kommen wir noch mal zur Fragestellung Ihrer Doku: Kann KI die Demokratie retten? Wie lautet Ihre Antwort?

Linda Zervakis: Es wird noch dauern, bis KI echte politische Entscheidungen treffen kann. Was man aber bald schon machen könnte, ist, dass KI bestimmte Baustellen der Demokratie bearbeitet. Wie zum Beispiel die von mir bereits genannte Sprachbarriere. Ich glaube nicht, dass die Art, wie Politiker sprechen, bei allen Wählern noch ankommt. Da könnte KI eine Brücke bauen, um zu verstehen, was die Politik eigentlich anbietet oder vorhat. Wir haben natürlich auch die Frage gestellt, ob den Menschen eine KI-Regierung lieber wäre als eine, die aus Menschen besteht ...

Wenige Tage nach ihrer letzten "Tagesschau" am 26. April 2021, verkündete Linda Zervakis ihren Wechsel zur Sendergruppe ProSi eben.Sat.1. Dort moderierte sie mit Matthias Opdenhövel die Magazinsendung "Zervakis & Opdenhövel. Live.". Die Sendung befasste sich mit aktuellen und gesellschaftlichen Themen - wurde allerdings Ende 2023 eingestellt. (Bild: ProSieben / Benedikt Müller)

"Ich glaube, dass am Ende immer der Mensch entscheiden wird"

teleschau: Und was kam dabei heraus?

Linda Zervakis: Dass die meisten Menschen lieber von anderen Menschen regiert werden. Selbst dann, wenn sie politikverdrossen sind. Die Skepsis gegenüber der neuen Technik ist schon noch groß, haben wir festgestellt. Als Assistenzsystem wird KI aber bald schon eine große Rolle spielen. Zum Beispiel, um Reden zu schreiben oder bürokratische Arbeitsprozesse zu erleichtern. Die Politikerin oder der Politiker hätte dann wieder mehr Zeit, sich den eigentlich wichtigen Dingen ihres Jobs zu stellen. Zum Beispiel dem Dialog mit den Bürgern. Mir hat eine Bundestagsabgeordnete in der Doku gezeigt, wie viele Ordner sie hätte lesen müssen, um sich in ein bestimmtes Sachgebiet einzuarbeiten. Wenn es eine KI gäbe, die ihr das Ganze auf drei bis vier Seiten zusammenfassen würde - und so etwas wird es geben -, wäre es eine große Erleichterung ihres Jobs.

teleschau: Gibt es schon Beispiele für KI als politisches Entscheidungssystem?

Linda Zervakis: Wir haben diese Frage im Titel der Doku gestellt, aber das ist auch als Provokation gedacht. Aktuell ist das für mich noch nicht absehbar. Ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen, dass wir irgendwann KI-Politiker haben werden. Ich glaube, dass am Ende immer der Mensch entscheiden wird und nicht die KI.

teleschau: Wenn KI politische Entscheidungen treffen soll, setzte dies auch voraus, dass Politiker freiwillig Macht abgäben. Politik scheint aber überall so zu funktionieren, dass man die Macht behalten will ...

Linda Zervakis: Das ist ein guter Punkt. Politik scheint selbst in der Demokratie ein System zu sein, das auf Machterhalt ausgerichtet ist. Auch wenn gerade die Bereitschaft, Macht abzugeben, die Demokratie von der Diktatur unterscheidet. Der Machtwechsel ist das zentrale Merkmal der Demokratie. Interessant ist allerdings, dass vor allem jüngeren Menschen der Wechsel zwischen den etablierten Parteien nicht mehr genügt. Sie können sich jetzt schon vorstellen, dass KI politische Entscheidungen trifft. Sie fühlen sich, zumindest in Teilen, vom politischen Prozess abgekoppelt. Politik, das sind für sie oft alte, weiße Männer und Frauen, die kompliziert daherreden und eigentlich nicht zu verstehen sind. Die Jungen glauben nicht, dass diese Menschen auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Linda Zervakis ist Mutter zweier Kinder, die 2012 und 2015 zur Welt kamen. Der Vater ist ein NDR-Journalist. Die Familie lebt nach wie vor in Hamburg. (Bild: 2022 Getty Images/Hannes Magerstaedt)
Linda Zervakis ist Mutter zweier Kinder, die 2012 und 2015 zur Welt kamen. Der Vater ist ein NDR-Journalist. Die Familie lebt nach wie vor in Hamburg. (Bild: 2022 Getty Images/Hannes Magerstaedt)

"Die größte Angst ist, dass die Möglichkeiten der KI in falsche Hände geraten"

teleschau: Dann ist der Schritt zum Vertrauen in die KI nicht mehr so groß, wollen Sie damit sagen?

Linda Zervakis: Ja. Die KI trifft Entscheidungen ohne Emotionen. Und sie ist auch gegen Lobbyismus stabil und unempfindlich. Das alles finden einige Menschen heute schon ziemlich gut.

teleschau: Was ist in Bezug auf KI Ihre größte Hoffnung?

Linda Zervakis: Meine größte Hoffnung ist, dass KI wie beschrieben unser Leben erleichtert. Dass wir durch sie mehr Zeit finden, uns auf die wichtigen und menschlichen Aspekte unseres Lebens zu konzentrieren. Die größte Angst ist, dass die Möglichkeiten der KI in falsche Hände geraten und missbraucht werden. Doch da bin ich dann wieder bei der Hoffnung, dass Gegenbewegungen einsetzen, um schlechte KI-Anwendungen zu demaskieren und zu kontern. Natürlich kann und wird auch das durch KI geschehen.

teleschau: Wir haben heute schon regelmäßig mit sogenannte Deepfakes zu tun. Also durch KI gefälschte Bilder oder Videos, die aber kaum noch als Fälschungen zu erkennen sind. Die sind jetzt schon eine konkrete Gefahr für die Demokratie, oder?

Linda Zervakis: Auch das sind Gefahren, die man mit KI kontern kann. Wir haben für die Doku einen Amerikaner getroffen, der eine KI entwickelte, mit der man Politikerreden auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen kann. Diese App könnte direkt checken, ob jemand falsche Fakten nennt oder sogar, ob jemand etwas sagt, von dem der Redner selbst weiß, dass es nicht stimmt.

"Ich möchte nicht anders denken - allein schon, weil ich Kinder habe"

teleschau: Also quasi die Weiterentwicklung eines Lügendetektors ...

Linda Zervakis: Kann man so sagen. Wir haben das System getestet, indem ich drei Aussagen tätigte über Dinge, die mir liegen. Zwei davon waren wahr, eine gelogen. Die KI deckte meine Lüge spielend leicht auf. Natürlich sind auch solche Wahrheitsmaschinen eine ethisch heikle Sache. Denn wir müssen uns die Frage stellen: Jagen wir alles da durch? Gibt es überhaupt noch die Möglichkeit, mal nicht die Wahrheit zu sagen? Ich glaube, in einer demokratischen, menschlichen Gesellschaft müsste das Ding so funktionieren wie der Videobeweis im Fußball. Dass man einen Bereich definiert, wo man sagt: Hier kommen wir als Menschen nicht weiter, da nutzen wir die Technik. Und ansonsten entscheidet der Mensch.

teleschau: Sie haben aber die klare Hoffnung, dass KI unser Leben verbessern wird?

Linda Zervakis: Ja, ich halte das zumindest für möglich. Viele Dinge in unserer Welt sind gerade so negativ. Ich möchte einfach die Hoffnung haben, dass die Welt sich durch Erfindungen wie KI zum Besseren wandeln könnte. Dass es einen großen technischen Durchbruch geben wird, der uns mit Hoffnung in die Zukunft schauen lässt. Ich möchte nicht anders denken - allein schon, weil ich Kinder habe.