Gastbeitrag von Marcel Fratzscher - Draghi-Plan ist der einzige Weg, Deutschlands Deindustrialiserung zu verhindern
Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi fordert milliardenschwere Investitionen und eine gemeinsame, europäische Verschuldung – für Finanzminister Lindner undenkbar. Doch hierzu gibt es keine Alternative, wenn die Deindustrialisierung unserer Wirtschaft verhindert werden soll, erklärt DIW-Präsident Marcel Fratzscher in diesem Gastbeitrag.
Der Bericht des früheren italienischen Premierministers und EZB-Präsidenten Mario Draghi für die EU-Kommission legt schonungslos die wirtschaftlichen und institutionellen Schwächen Europas offen. Draghi fordert mehr Investitionen und marktwirtschaftliche Lösungen, weniger nationale Alleingänge und eine Stärkung europäischer Institutionen. Die Forderungen dürften gerade in Deutschland auf viel Widerstand stoßen. Dabei wäre die deutsche Wirtschaft der größte Nutznießer solcher Reformen und diese die einzige Chance, eine große Deindustrialisierung Deutschlands zu verhindern.
Keiner von Draghis Befunden und keine seiner Forderungen sind neu, alle Schwächen seit langem bekannt. Der Staat und die Unternehmen investieren viel zu wenig. Das Resultat sind ein unzureichendes Bildungssystem, eine verfallende Infrastruktur, zu wenig Innovation und eine fehlende Anpassungsfähigkeit der Unternehmen. Die Anbieter essenzieller globaler digitaler Plattformen kommen aus den USA oder China. Bei digitalen Dienstleistungen und künstlicher Intelligenz läuft Europa Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Und auch bei grünen Technologien könnten amerikanische und chinesische Unternehmen Europa zunehmend abhängen.
Nationale Alleingänge statt gemeinsamer Interessen
Viele der neuen Technologien erfordern einen großen Binnenmarkt und tiefe Kapitalmärkte, um ausreichend privates Kapital zu mobilisieren. Europa ist jedoch gekennzeichnet von nationalen Alleingängen. Vor allem in Deutschland wurde immer wieder betont, man müsse doch „nationale Champions“ schaffen, fördern und schützen. Die deutschen und französischen Regierungschefs reisen lieber alleine nach China, um individuell Deals für nationale Unternehmen auszuhandeln und sich dafür zu Hause feiern zu lassen, als dass man zusammen auftritt und gemeinsame Interessen verfolgt.
Nationale Regierungen lassen es zu, dass Autokraten aus China, Russland und anderswo einzelne EU-Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen, statt eine gemeinsame Linie zu vertreten, auch wenn es kurzfristig den eigenen nationalen Interessen vermeintlich nicht hilft – beispielsweise bei den Ausgleichszöllen auf chinesische E-Autos.
Mario Draghi fordert weniger nationale Alleingänge und eine Stärkung der gemeinsamen europäischen Politik und seiner Institutionen. So mahnt er die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen und insbesondere eine Kapitalmarktunion und die Vollendung der Bankenunion an. Er fordert eine Deregulierung, damit es zu einer Konsolidierung einzelner Sektoren kommt – von Telekommunikation bis hin zu Finanzinstitutionen. Und er schlägt eine Stärkung des öffentlichen Einkaufs vor, sodass nationale Regierungen sich beispielsweise bei Rüstungsausgaben eine bessere Qualität zu deutlich geringeren Kosten sichern können.
Es gibt keine Alternative, um die Deindustrialisierung zu verhindern
Der Draghi-Bericht identifiziert eine europaweite Investitionslücke von 800 Milliarden Euro im Jahr, das entspricht 4,5 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Dies klingt nach einer exorbitanten Summe, ist jedoch realistisch. Gerade Deutschland hat seit langer Zeit eine riesige private und öffentliche Investitionslücke, die das DIW Berlin bereits seit 2013 dokumentiert und moniert hat. Gerade Deutschland könnte diese Investitionslücke aus eigener Kraft füllen. Denn die Nettoersparnis der deutschen Volkswirtschaft (gemessen an der sogenannten Leistungsbilanz) beträgt rund 250 Milliarden Euro oder mehr als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung.
In anderen Worten: Deutschland könnte den allergrößten Teil seiner Investitionslücke durch privates Kapital aus Deutschland schließen, wenn es einen Teil seiner Nettoersparnisse nicht exportieren, sondern hierzulande verwenden würde. Dafür müssten die deutschen Unternehmen und Finanzinstitutionen jedoch stärker den Investitionsbedarf in Deutschland bedienen und Chancen erkennen. Dies erfordert Mut der Unternehmen und bessere Rahmenbedingungen durch den Staat – von einer leistungsfähigen Infrastruktur über einen deutlichen Abbau der Bürokratie bis hin zur Mobilisierung von Fachkräften.
Dafür brauchen wir deutlich mehr öffentliche Investitionen, vor allem für europäische öffentliche Güter wie eine Energieinfrastruktur und eine gemeinsame Industriepolitik. Und dafür wiederum benötigen wir zumindest in einem begrenzten Umfang zwingend eine europäische Fiskalpolitik und die Schaffung einer gemeinsamen sicheren Anleihe. Dies ist ein rotes Tuch für viele in Deutschland, aber wenn eine Deindustrialisierung verhindert und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden sollen, ist dies ohne Alternative.
Deutschland lebt seit Jahren in einer Illusion der 1980er
Aber auch auf nationaler Ebene müssen deutlich mehr öffentliche Investitionen mobilisiert werden, beispielsweise für das Bildungssystem sowie Forschung und Innovation. Anders als in Griechenland oder Italien ist die Hürde dafür in Deutschland nicht eine zu hohe Staatsverschuldung, sondern eine schädlichen Schuldenbremse, die ausreichende öffentliche Investitionen verhindert. Und dabei verringert sie langfristig nicht einmal die Schuldenquote, sondern reduziert die Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und somit den Wohlstand und erhöht damit die Schulden langfristig sogar noch.
Mario Draghi drückt aus, was eigentlich eine Binsenweisheit ist: Ohne deutlich mehr private und öffentliche Investitionen werden Produktivität und Wachstum noch schwächer werden, Arbeitsplätze und innovative Unternehmen abwandern und viel des Wohlstands verloren gehen. Jede Bundesregierung der vergangenen 25 Jahre hat eine systematische Stärkung Europas und eine Verlagerung wichtiger Kompetenzen von nationaler auf europäische Ebene jedoch abgelehnt. Wir leben noch immer in der Illusion einer kleinen, offenen Volkswirtschaft der 1980er Jahre, in der unser nationales, exportorientiertes Wirtschaftsmodell die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand sichern wird. Dies war bereits vor zehn Jahren ein Irrglaube und ist es heute in einer digitalen Welt mit immer stärker national agierenden Ländern, wie China und den USA, umso mehr.
Die Hoffnung bleibt, dass die verantwortliche Politik in Berlin, Paris und anderswo in Europa endlich ihre nationalen Scheuklappen ablegt, Europa stärkt und dadurch eine große Deindustrialisierung verhindert und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sichert.