„Möchtest du mein Kätzchen streicheln?“ - Was ich lernen musste, als ein Fremder meine 7-jährige Tochter in seine Wohnung lockte

"Möchtest du mein Kätzchen streicheln", fragte der Mann und lockte mein Kind in seine Wohnung<span class="copyright">Getty Images</span>
"Möchtest du mein Kätzchen streicheln", fragte der Mann und lockte mein Kind in seine WohnungGetty Images

„Wie konnte das passieren?“, fragten mein Mann und ich uns immer wieder. Wir hatten unseren Kindern doch schon oft gesagt, dass sie nie mit Fremden mitgehen dürfen. Und doch war es passiert. Was ich aus diesem Schockerlebnis gelernt habe, möchte ich mit anderen Eltern teilen.

Vor ein paar Wochen mussten mein Mann und ich eine Erfahrung machen, vor der allen Eltern graut. Noch während ich das Erlebte verarbeitete, war mir klar, dass ich auch darüber schreiben muss. Dass andere Eltern gewarnt werden müssen. Was war passiert?

Am Donnerstagnachmittag hatten wir eine Schulfreundin meiner Tochter zu Besuch. Sie wohnt ganz in der Nähe, nur zwei Straßen weiter. Mit ihrer Mutter hatten wir vereinbart, dass wir das Mädchen gegen 18 Uhr nach Hause schicken. Spontan beschlossen wir, dass die beiden ja gemeinsam gehen und unsere Tochter dann alleine zurück nach Hause laufen könnte.

Wir wohnen in einer ruhigen Wohngegend in einer überschaubaren Gemeinde im Landkreis München. Die Kinder kennen den Weg in und auswendig, denn es ist gleichzeitig ihr Schulweg. Kein Grund zur Sorge also. Trotzdem beschloss mein Mann spontan, zumindest mit ein wenig Abstand die Kinder zu begleiten.

„Möchtest du mein Kätzchen streicheln?“

Er sah die beiden Siebenjährigen in den Weg abbiegen, der zu den Hauseingängen einiger Mehrfamilienhäuser führt. In einer dieser Wohnungen lebt die Freundin unserer Tochter mit ihrer Familie. Davon ausgehend, dass unsere Tochter gleich wieder auf die Straße kommen würde, wartete mein Mann einige Minuten.

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Als unsere 7-Jährige jedoch nicht kam, klingelte mein Mann bei der Mutter ihrer Freundin, um sie daran zu erinnern, dass wir bald zu Abend essen wollen. Doch als die Mutter die Tür öffnete und innerhalb von Sekunden klar war, dass die Mädchen nicht bei ihr angekommen waren, gerieten beide in Panik. Wo waren die beiden hingegangen?

Wie sich kurz danach herausstellte, waren sie in der Wohnung eines Nachbarn, um dessen Kätzchen zu streicheln. Dieser Nachbar ist ein netter Mann und den Kindern ist nichts passiert. Trotzdem saß der Schock tief.

Wie konnte das passieren?

Wie konnte es passieren, dass unsere Tochter einfach so ohne weiteres zu einem fremden Mann in die Wohnung geht? Und dann auch noch auf den Klassiker „hereinfällt“: Ich habe eine süße Katze in meiner Wohnung. Möchtest du sie mal streicheln?

Wir waren fassungslos. Wir hatten dieses Thema doch schon oft mit unseren Kindern besprochen. Hatten ihnen gesagt, dass nicht alle Menschen, die lieb aussehen oder nett sind, auch wirklich nur Gutes im Sinn haben. Wir hatten ihnen wiederholt eingeschärft, dass sie niemals mit Fremden mitgehen dürfen, auch wenn sie sie mit Süßigkeiten, Welpen oder anderen Geschenken locken. Wir hatten ihnen gesagt, dass sie die gleichen Süßigkeiten auch von uns bekommen würden, wenn sie uns Bescheid sagen und dass wir gerne zu diesen Menschen mitkommen, um uns gemeinsam die Welpen anzusehen, falls denn wirklich welche da sind.

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Und doch hat unsere Zweitklässlerin genau das getan. Mein Mann und ich haben an dem Abend lange darüber gesprochen, was wir falsch gemacht haben. Hätten wir konkreter auf die möglichen Gefahren eingehen sollen? Hätten wir unserer Tochter Angst machen sollen?

Was hätten wir besser machen können?

Diesmal war ja alles gut gegangen. Aber wir mussten an diesem Abend lernen, dass das, was wir bislang getan hatten, um unsere Kinder zu schützen, nicht ausgereicht hatte.

Kurz darauf telefonierte ich mit zwei Menschen, von denen ich mir wertvolle Tipps erhoffte: Kriminalhauptmeister Tobias Gruber vom bayerischen Landeskriminalamt und Julia von Weiler, Psychologin und Vorsitzende des Vereins „Innocence in Danger“, der sich für den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt einsetzt. Ihre Ratschläge möchte ich an andere Eltern weitergeben.

„Im Grunde haben Sie nichts falsch gemacht. Und Ihre Tochter hat auch nichts falsch gemacht“, sagt Julia von Weiler gleich zu Beginn des Gesprächs. Allerdings:

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„Wir beruhigen uns selbst oft damit, dass wir unseren Kindern das ja beigebracht haben. Aber es reicht nicht, das ein, zwei oder dreimal zu erklären. Wir müssen es immer wieder wiederholen.“

Lieber nicht schimpfen

Dabei sei es zielführender, die Kinder nicht mit einem langen, ernsthaften Vortrag zu überfrachten, sondern das Thema im Alltag immer mal wieder locker aufzugreifen, etwa beim Abendessen oder auf dem Nachhauseweg.

„Es geht darum, die Botschaften zu setzen, wirken zu lassen und sie dann immer und immer wieder zu setzen.“

Hilfreich seien kleine Erinnerungen und offene Fragen. Etwa: „Wie war das noch mal: was macht ihr, wenn ein Fremder euch Süßigkeiten anbietet, oder euch einen süßen Welpen zeigen will?“ Wenn die Kinder selbst nachdenken und Antworten formulieren, prägt sich das Gelernte eher ein, als wenn sie nur zuhören, was die Eltern sagen.

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Wichtig sei auch, mit den Kindern nicht zu schimpfen, wenn sie die vereinbarten Regeln doch einmal vergessen oder missachtet haben. Die Kinder müssen wissen, dass sie keinen Ärger zu erwarten haben, wenn sie sich ihren Eltern anvertrauen. Stattdessen könne man sagen: „Das hat mir richtig Angst gemacht und zum Glück ist nichts passiert. Lass uns doch noch mal überlegen, was wir verabredet haben.“

 

Missbrauchsfälle passieren fast immer im nahen Umfeld

Die wichtigste Aussage von Julia von Weiler ist auf der einen Seite beruhigend, auf der anderen Seite verstörend:

„In aller Regel ist es nicht die fremde Person, die Ihr Kind anspricht, von der Straße lockt und missbraucht. Das macht weniger als ein Prozent aller Fälle aus. Sexualisierte Gewalt findet im sozialen Nahfeld statt, das heißt, in der engen und erweiterten Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule, im Sportverein, bei den Pfadfindern. Sexualisierte Gewalt ist meist eine Beziehungstat und das macht es oft auch sehr schwer für Kinder, sich mitzuteilen.“

Aus diesem Grund sei es besonders wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass sie selbst entscheiden dürfen, wer sie berühren darf und wer nicht, auch wenn es sich um Personen aus dem familiären Umfeld handelt. „Es gibt sehr gute Kinderbücher zu diesem Thema, ich kann vor allem das Buch ‚Ich bin doch keine Zuckermaus‘ von Sonja Blattmann empfehlen.“

Es sei wichtig, mit Kindern über diese Themen zu sprechen, auch zum Beispiel Geschlechtsorgane korrekt zu benennen, um zu signalisieren, dass die Eltern bereit sind, offen darüber zu sprechen und die Kinder sich entsprechend mit Fragen oder Anliegen an sie wenden können.

Auch Tobias Gruber ist es wichtig, diesen Aspekt zu betonen:

„Es ist wirklich wichtig, die Eltern dahingehend zu sensibilisieren, dass Missbrauchsfälle zu weit über 90 Prozent im engeren Umfeld geschehen.“

 

Die wichtigsten Tipps vom Kriminalhauptmeister

Trotzdem sei es natürlich sehr wichtig, Kinder darauf aufmerksam zu machen, dass es Menschen gibt, die auf den ersten Blick vielleicht nett und freundlich wirken – die aber möglicherweise böse Absichten haben. Der Kriminalhauptmeister hat einige Tipps:

  • Sorgen Sie für eine gute Vertrauensbasis in der Familie, damit die Kinder wissen, dass sie sich ihren Eltern immer anvertrauen können

  • Lassen Sie Kinder möglichst zu zweit oder in kleinen Gruppen gehen

  • Erklären Sie den Kindern, dass sie am besten gar nicht reagieren sollen, wenn Fremde sie auf der Straße ansprechen

  • Erlauben Sie den Kindern ausdrücklich, in solchen Situationen unfreundlich und abweisend zu reagieren – sogar, wenn jemand um Hilfe bittet. Die Regel lautet: Nur Erwachsene helfen fremden Erwachsenen!

  • Erklären Sie, dass die Kinder laut schreien und auf sich aufmerksam machen sollen, falls fremde Personen ihnen penetrant hinterhergehen

  • Richten Sie mit Ihren Kindern Rettungsinseln entlang des Schulwegs ein. Rettungsinseln sind Orte, an denen die Kinder Hilfe bekommen können. Dafür eignen sich Arztpraxen, Bäckereien, Apotheken, Restaurants, usw.

  • Erklären Sie auch, bei welchen Personengruppen Kinder unterwegs Hilfe bekommen können, etwa Polizisten, Menschen in Uniformen, Verkäufer, Kellner, oder Mütter mit Kindern

  • Bringen Sie Ihren Kindern bei, fremde Menschen immer zu siezen – so können Außenstehende schneller darauf aufmerksam werden, dass es sich bei dem Erwachsenen um einen Fremden handelt

  • Vereinbaren Sie ein Code-Wort mit Ihren Kindern, das genannt werden muss, wenn jemand zum Beispiel einen Notfall vortäuscht und das Kind abholen will

  • Vermeiden Sie es, den Namen des Kindes sichtbar an Kleidung oder Schulranzen anzubringen. Wird das Kind beim Namen genannt, könnte es einem Fremden weniger misstrauisch entgegentreten

  • Sensibilisieren Sie die Kinder immer wieder für das Thema, indem Sie zum Beispiel thematisch passende Bücher vorlesen und besprechen

  • Wiederholung ist das Zauberwort. Bleiben Sie mit Ihren Kindern regelmäßig im Gespräch und bringen Sie das Thema immer wieder zur Sprache

Was wir lernen mussten

Mein Mann und ich haben uns inzwischen beruhigt und binden das Thema nun immer mal wieder in die Gespräche mit unseren Kindern ein. Auch wenn es ein Schock war, bin ich doch froh, daraus etwas gelernt zu haben, das ich nun auch an andere Eltern weitergeben kann. Meinen Kindern habe ich auch von den Gesprächen erzählt. Besonders cool fanden sie, dass ich mit einem echten Polizisten telefoniert habe.

„Mama, wenn mich ein Fremder auf der Straße anspricht, muss ich nicht freundlich sein!“, sagte eins meiner Kinder mit ernster Stimme neulich wie aus dem Nichts. Gut, dachte ich mir. Die Botschaft ist gesetzt und angekommen. Jetzt dürfen wir sie nur nicht aus den Augen verlieren.