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Polen wirft EU-Kommission «Erpressung» vor

Straßburg (dpa) - Die polnische Regierung droht die Europäische Union in eine neue schwere Krise zu stürzen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki machte im Europaparlament deutlich, dass sein Land im Streit um das Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht nicht an ein Einlenken denkt.

Der nationalkonservative Regierungschef warf der EU-Kommission «Erpressung» vor. Man werde nicht zulassen, dass dies als Mittel der Politik gegenüber EU-Mitgliedsstaaten eingesetzt werde, sagte er an die Adresse von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerichtet. «Die Kompetenzen der EU haben ihre Grenzen, wir können nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.»

Sanktionen drohen

Von der Leyen ihrerseits drohte Polen angesichts der Justizreformen mit Sanktionen. «Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden», sagte sie. Ihre Behörde werde die Rechtsstaatlichkeit mit allen Mitteln verteidigen. Eine derart offen ausgetragene Konfrontation zwischen Kommission und einen EU-Staat im Europaparlament hat Seltenheitswert - und zeigt, wie ernst die Lage aus Brüsseler Sicht ist.

Als konkrete Möglichkeiten zum Handeln nannte von der Leyen nun ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren, die Nutzung eines neuen Verfahrens zur Kürzung von EU-Mitteln sowie die erneute Anwendung des sogenannten Artikel-7-Verfahrens. Letzteres könnte zum Entzug der polnischen Stimmrechte bei EU-Entscheidungen führen. Abgeordnete von Parteien wie der CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und Linken unterstützten in der Diskussion einen harten Kurs gegen die polnische Regierung und attackierten Morawiecki scharf.

«Durch Ihre Rede heute hier säen Sie Spalt und Streit in der Europäischen Union», sagte Manfred Weber (CSU), Fraktionschef der Christdemokraten. «Sie machen Europa schwächer mit diesem politischen Ansatz.» Damit spiele Morawiecki Autokraten wie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Hände, sagten Weber und zahlreiche andere Abgeordnete. Unter anderem die AfD nahm Morawiecki in Schutz.

Polnische Justizreform

Hintergrund des eskalierenden Streits ist das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, nach dem Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar sind. Diese Entscheidung wird von der EU-Kommission als höchst problematisch angesehen, weil sie der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des EuGH zu ignorieren. Schon seit längerem sieht die EU-Kommission wegen der polnischen Justizreformen die Unabhängigkeit der dortigen Richter gefährdet.

Gegen Ende der mehr als vierstündigen Debatte ließ von der Leyen etwaige Zurückhaltung vollends fallen. Das Urteil des Verfassungsgerichts sei ein einmaliger Vorgang. Das Gericht lege die «Axt an die europäischen Verträge». Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass es heute keine Annäherung mehr geben werde. Zu Beginn des Tages hatte das - inhaltlich zwar ähnlich - aber im Ton deutlich konzilianter geklungen: «Nur eine gemeinsame Rechtsordnung ermöglicht gleiche Rechte, Rechtssicherheit, gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und daraus resultierend gemeinsame Politik.»

Streitpunkt EuGH

Morawiecki verwies hingegen darauf, dass auch die obersten Gerichte in anderen EU-Ländern keinen absoluten Vorrang von EU-Recht sehen und warf dem EuGH Kompetenzüberschreitungen vor. Immer wieder betonte er, dass die EU-Staaten der Union bestimmte Kompetenzen zuwiesen - und die EU nicht darüber hinaus handeln dürfe. Um seinen Standpunkt zu untermauern, zitierte er aus Urteilen der obersten Gerichte in den Niederlanden, in Frankreich sowie in Deutschland. Und fragte, warum es nun Polen sei, das so scharf angegangen werde. Allerdings hat bislang kein Gericht eines EU-Lands Teile des gemeinsamen Rechts grundsätzlich in Frage gestellt.

«Diese Situation kann und muss gelöst werden», forderte von der Leyen nun. Wie diese Lösung aussehen könnte, ist völlig unklar. Erst einmal will von der Leyen milliardenschwere Corona-Hilfen für Polen blockieren, bis das Land entscheidende Justizreformen rückgängig gemacht hat. Aus Sicht von Ländern wie Luxemburg oder der Niederlande müssten Staaten wie Polen eigentlich aus der EU austreten, wenn sie sich nicht vollständig an Gemeinschaftsrecht halten wollen. Kanzlerin Angela Merkel mahnte hingegen Dialogbereitschaft auch seitens der EU an.

Für die Notwendigkeit einer Einigung im Dialog spricht auch, dass die von der EU-Kommission angedrohten Sanktionsverfahren nur dann vorangetrieben werden können, wenn eine große Mehrheit der anderen EU-Staaten diese unterstützt. Dies ist bislang alles andere als sicher. Hinzu kommt, dass Polen in Reaktion auf Strafmaßnahmen einstimmig zu treffende EU-Entscheidungen blockieren und so zum Beispiel die gesamte EU-Außenpolitik lahm legen könnte.

Dass Polen über das bereits laufende Artikel-7-Verfahren die EU-Stimmrechte entzogen werden könnten, gilt derzeit wegen der Mehrheitsverhältnisse im zuständigen EU-Ministerrat als ausgeschlossen. Der EU-Kommission bliebe damit lediglich die Möglichkeit, weiter die Auszahlung von EU-Corona-Hilfen hinauszuzögern und darauf zu hoffen, dass der EuGH im Fall von nicht eingehaltenen Urteilen Zwangsgelder verhängt. Letztere könnten mit EU-Zahlungen an Polen verrechnet werden. Das Land ist größter Netto-Empfänger. Aus dem regulären EU-Haushalt erhielt das Land allein im vergangenen Jahr netto rund 12,4 Milliarden Euro.

Konflikt beim EU-Gipfel

Erwartet wird nun, dass der Streit beim EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag Thema wird. Da Entscheidungen dort nur einstimmig getroffen werden können, hat Polen jedoch nichts zu befürchten. Doch wählt Polen von sich aus den Weg aus der EU, den sogenannten Polexit - obwohl ein Großteil der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft positiv bewertet? Morawiecki schließt das immer wieder aus, so auch am Dienstag. Zumindest in diesem Punkt war er sich mit von der Leyen einig. Die schloss ihr Eingangsstatement auf Polnisch: «Polen, du bist im Herzen Europas und wirst es immer sein. Es lebe Polen! Es lebe Europa!»