Madeleine Henfling im Interview - Grüne nach Thüringen-Wahl: „Einige Kollegen fielen mir heulend in die Arme“
Madeleine Henfling war grüne Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Thüringen. Doch ihre Partei verpasste mit nur 3,2 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament. Wie sie damit umgeht und warum sie am Wahlabend in Tränen ausbrach, erklärt sie im Interview mit FOCUS online.
FOCUS online: Frau Henfling, die Thüringer Landtagswahl ist jetzt einige Tage her. Wie fühlen Sie sich?
Madeleine Henfling: Es geht mir schon ein bisschen besser. Am Sonntag standen hier einige Menschen unter Schock, einschließlich mir selbst.
Ihr Wahlergebnis ist auch mindestens bitter: Die Grünen verpassten mit 3,2 Prozent der Stimmen den Einzug in den Landtag.
Henfling: Niemand von uns war so blauäugig zu glauben, dass wir es auf jeden Fall ins Parlament schaffen. Trotzdem tut es weh, rauszufliegen. Auch, wenn unsere Zustimmungswerte in Thüringen grundsätzlich niedriger sind als im Bund.
Am Wahlabend brachen Sie in Tränen aus. Allerdings nicht wegen des Grünen-Ergebnisses.
Henfling: Das stimmt. Dass die AfD die Wahl gewonnen hat, ist eine Zäsur. Außerdem hat die Partei jetzt eine Sperrminorität im Landtag. Der Wahlsieg der Rechtsextremisten hat meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden lassen.
Wie meinen Sie das?
Henfling: Für mich war der Kampf gegen Rechtsextremismus eine wichtige Triebfeder, in die Politik zu gehen. Mir geht das Thema nahe. Ich kenne viele Menschen, die unmittelbar von rechter Hetze betroffen sind, weil sie eine andere Hautfarbe oder eine andere sexuelle Orientierung als die breite Mehrheit haben. Ich weiß, was ein AfD-Wahlsieg für diese Menschen bedeutet.
„Wir sind eine Migrationsgesellschaft und müssen gute Strukturen dafür schaffen“
Und was bedeutet er?
Henfling: Angst. Verunsicherung. Diese Menschen machen sich ernsthafte Gedanken darüber, ob sie in Thüringen bleiben können.
Warum?
Henfling: Weil sie befürchten, dass es jetzt zu mehr Rassismus, zu mehr Beleidigungen, zu mehr Übergriffen kommt. Diese Sorgen machen sich Betroffene gerade.
Wenn die Stimmung wirklich so aufgeheizt ist, wie Sie sagen, dann war sie das auch schon vor der Wahl. Sonst hätte die AfD gar nicht so stark werden können.
Henfling: Ja. Aber mit dem Wahlsieg einer rechtsextremen Partei werden solche Einstellungen salonfähiger. Das hat sich schon im Wahlkampf abgezeichnet. In Thüringen sind neonazistische Gruppen in den vergangenen Wochen deutlich dreister und offener aufgetreten als bisher.
Die Menschen in Thüringen wollen offenbar eine striktere Zuwanderungspolitik – und haben auch deshalb Parteien wie die AfD gewählt.
Henfling: Das ist mir zu einfach, zu sagen: Weil es Zuwanderung gibt, ist es legitim, eine rechtsextreme Partei zu wählen. Meiner Meinung nach sind wir eine Migrationsgesellschaft und müssen endlich gute Strukturen dafür schaffen.
Das heißt?
Henfling : Ich finde es verheerend, dass es zum Thema Migrationsgesellschaft kaum positive Erzählungen gibt. Wir konnten unseren Wohlstand in Deutschland nur aufbauen und aufrechterhalten, weil Menschen aus anderen Teilen der Welt zu uns gekommen sind.
Migration ist das Normalste der Welt. Aber seit einigen Jahrzehnten verweigern wir uns einer vernünftigen Diskussion über das Thema. Das gipfelt jetzt in Abschottungs- und Abschiebedebatten, die niemandem weiterhelfen. Der Ton wird immer schärfer.
„Gute Laune herrscht nicht - aber wir ziehen alle an einem Strang“
Was wäre denn der richtige Weg in Ihren Augen?
Henfling: Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen, die zu uns kommen, gut integriert werden, Deutsch lernen und arbeiten können. An so vielen Stellen fehlt ihnen der Zugang. Das finde ich problematisch. Viele Politiker kommen nur mit Scheinlösungen daher.
Sie plädieren für einen konstruktiveren Austausch zum Thema Migration und Asyl.
Henfling: Genau. Alle demokratischen Parteien sollten aufhören, so aggressiv über Zuwanderung zu sprechen. Aufhören, die Eskalationsspirale weiter anzuheizen. Wir sollten nicht alle Syrer, alle Afghanen über einen Kamm scheren.
Was schlagen Sie konkret für Änderungen vor?
Henfling: Meiner Meinung nach sind rechtliche Anpassungen nötig. Es gibt zum Beispiel immer noch Arbeitsverbote, der Integrationsbereich ist unterfinanziert und Menschen, die zu uns kommen, können ihre Bildungsbiografien nicht adäquat weiterführen. In meinen Augen müssten wir viel gezielter an einer Anti-Diskriminierungsgesellschaft arbeiten.
Zurück zur Landtagswahl: Wie ist die Stimmung bei den Thüringer Grünen gerade?
Henfling: Wir hatten ein paar Gesprächsrunden. Gute Laune herrscht nicht, aber wir ziehen alle an einem Strang, was nicht immer so war. Wir wollen die richtigen Schlüsse aus der Landtagswahl ziehen und uns auf die neue politische Lage in Thüringen einstellen.
Sie spielen auf die kommende Regierung an.
Henfling: Ja. Allerdings muss man auch sagen: Wir sind im Moment noch weit weg von einer aussichtsreichen Regierungsbildung. Und unklar ist auch, wie viel Macht die AfD am Ende ausüben wird. Als Grüne bereiten wir uns auf die Rolle als außerparlamentarische Opposition vor.
Henfling nennt Gründe für Wahlniederlage der Grünen in Thüringen
Ist Ihnen irgendein Satz, irgendeine Reaktion eines Parteikollegen nach der Wahl besonders im Gedächtnis geblieben?
Henfling: Der Sonntag ist nur so durchgerauscht. Viele haben geweint. Bei der Demonstration, die kurz nach der Wahl am Thüringer Landtag stattfand, sind mir einige Kollegen heulend in die Arme gefallen. Andere zeigten sich kämpferisch. Letztlich ist es ja nicht nur für uns ein schlechtes Ergebnis – auch für die Linke, die FDP, die SPD. Was mich sehr gefreut hat, ist die große Solidarität, die gerade herrscht.
Haben Sie sich bereits mit der Parteiführung ausgetauscht? Was sagen Lang und Nouripour zur Landtagswahl?
Henfling: Ja, wir haben gleich am Montagmorgen mit der Bundesspitze gesprochen. Lang und Nouripour haben sich für den Wahlkampf bedankt. Tiefer in die Analyse sind wir noch nicht eingestiegen. Wir Grüne drücken jetzt erstmal unseren Kollegen in Brandenburg die Daumen, wo am 22. September ein neuer Landtag gewählt wird.
Was glauben Sie: Warum konnten die Grünen im Osten nur so wenige Wähler überzeugen?
Henfling: Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe.
Dann erzählen Sie mal.
Henfling: Wir sind in einer Situation in den Wahlkampf gestartet, in der sich anti-grüne Narrative breitgemacht hatten. Zum Beispiel das Bild von der Verbotspartei, die den Leuten in den Keller hineinregiert. Wir haben unterschätzt, wie wenig Einfluss wir noch auf die Erzählung von grüner Politik haben.
Und was noch?
Henfling: In Thüringen haben wir zu spät angefangen , die Minderheitsregierung – und unsere Rolle darin - auch mal in positives Licht zu rücken. „Nichts funktioniert“ war das, was bei der Bevölkerung ankam. Dabei haben wir die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg gemeistert.
Dazu kommt, dass alle demokratischen Parteien das Thema Desinformation durch Social Media unterschätzt haben. Da fehlte uns eine klare Strategie. All das sind aber Punkte, die sich im Wahlkampf nicht wirklich angehen lassen. Nicht in wenigen Wochen.
„Vielleicht hätten wir uns stärker mit dem Thema innere Sicherheit auseinandersetzen müssen“
Das klingt, als hätten Sie nichts anders machen können.
Henfling: Natürlich hätten wir Dinge anders machen können. Aber: In den meisten Gesprächen, die ich mit Bürgern auf der Straße geführt habe, musste ich massiv gegen anti-grüne Erzählungen ankämpfen. Es gab zum Beispiel den Vorwurf, wir würden Teile des Thüringer Waldes abholzen und Windräder hinstellen wollen. Viele Unterhaltungen starteten so polarisiert, dass kaum eine Chance blieb, vernünftig über die eigentlichen Themen zu sprechen.
Vielleicht waren die Themen eben die falschen – und Sie hätten sich inhaltlich anders aufstellen müssen. Mehr zuhören müssen, was die Menschen wirklich beschäftigt.
Henfling: Vielleicht hätten wir uns stärker mit dem Thema innere Sicherheit auseinandersetzen müssen. Das kann sein. Aber ich weiß nicht, ob wir mit unserer Einstellung zu den Wählern durchgedrungen wären.
Schon vor der Landtagswahl räumten Sie ein: „Einige Menschen überfordern wir mit unserer Politik.“ Und sie sagten, dass das grüne Wählerklientel im Freistaat zu wenig vertreten sei.
Henfling: Hinlänglich bekannt ist, dass wir Grüne unsere Hochburgen im urbanen Raum haben. In Thüringen ist der eher ausgedünnt. Dazu kommt, dass wir im Freistaat mit einer relativ starken Linken konkurrieren. Darauf war die Aussage mit dem „Wählerklientel“ bezogen.
Und was meinten Sie mit „Überforderung“?
Henfling: Als die Grünen Teil der Ampel wurden, war der Transformationsdruck in Deutschland hoch. Wir wollten die Bewältigung der Klimakrise sozial gerecht gestalten, dann kam der Ukraine-Krieg dazu. Ich kann verstehen, dass manche Leute sagen: ‚Da passiert mir gerade zu viel auf einmal.‘ Ich kann nachvollziehen, dass sie verunsichert sind, bei dem Tempo, in dem sich die Welt gerade verändert.
„Ich will nichts schönreden“
Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Henfling: Transformationsprozesse wie Energie- und Verkehrswende müssen stattfinden, aber einfach klarer kommuniziert werden. Damit jedem deutlich wird, was die Politik eigentlich will. Wenn Menschen überfordert sind, bekommen sie Angst. Das nutzt wiederum populistischen Parteien.
Es gibt immer wieder Kritik an zentralen Themen der Grünen, zum Beispiel Maßnahmen zur Wärmewende, der migrationspolitischen Einstellung, dem Gendern. Ist Ihre Politik einfach nicht massentauglich?
Henfling: Wer die Bewältigung der Klimakrise nicht massentauglich findet, hat nicht verstanden, welche Auswirkungen sie hat. Ich halte es auch für ein Teil des Problems, zu behaupten, grüne Politik wäre nur für Eliten gemacht. Die Gender-Debatte ist eine Erzählung, die mit unserer eigentlichen Einstellung wenig zu tun hat. Wir sprechen keine Verbote aus, das machen eher andere Parteien.
Was folgt für Sie aus der Landtagswahl?
Henfling: Dass wir mehr Zuversicht brauchen. Seit Monaten hört man: Alles wird schlimmer. Das macht etwas mit den Menschen. Wir Politiker haben eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Ich will nichts schönreden.
Aber wir sollten uns gegen Desinformation wehren und nicht alles schwarzmalen, auch mal Erfolge aufzeigen. Auf Thüringen bezogen müssen wir Grüne uns fragen: Wie bekommen wir unsere strukturellen Schwächen in den Griff, wo schmieden wir starke Bündnisse vor Ort und in den Verbänden?
Wie geht es jetzt für Sie persönlich weiter?
Henfling: Das ist noch nicht klar. Ich werde meine Zelte im Landtag abbrechen und mich erstmal wieder mehr um meine Familie kümmern. Die kam in letzter Zeit ohnehin viel zu kurz.