Mangel treibt Firmen ins Ausland - Viel Arbeit, wenig Kräfte: Fünf Wege aus der Fachkräfte-Misere

An einer Wetterstation in Barsinghausen-Hohenbostel in der Region Hannover wurden 31 Grad gemessen.<span class="copyright">Julian Stratenschulte/dpa</span>
An einer Wetterstation in Barsinghausen-Hohenbostel in der Region Hannover wurden 31 Grad gemessen.Julian Stratenschulte/dpa

Der Fach- und Arbeitskräftemangel hat sich mittlerweile zu einem Standortrisiko für Deutschland entwickelt. Dabei gibt es etliche Lösungsansätze, die der Republik neue Dynamik versprächen.

Anfang August haben auch in Bayern als letztem Bundesland die Sommerferien begonnen. Doch in Unterhaching bei München ist der lang ersehnte Ferienstart getrübt. Statt wie im Vorjahr um 11 Uhr, öffnet das örtliche Freibad auch im August erst um 12.30 Uhr.

Aber der Gemeinde im Süden der Landeshauptstadt fehlt es schlicht am Personal. Seit über einem Jahr versuche man, die vakante Stelle eines „Fachangestellten für Bäderbetriebe“ zu besetzen, sagt Gemeindesprecher Simon Hötzl. Bislang vergeblich. Keine einzige interessante Bewerbung sei beim Rathaus für die Stelle eingegangen – trotz Anzeigen in der örtlichen Presse, auf Online-Portalen, Bauzäunen und als Reklame rund ums Bürgerfest. Deshalb müsse man jetzt „wohl die ganze Saison die Öffnungszeit beschränken“.

Auch in vielen größeren Städten mangelt es an Fachkräften für den organisierten Badespaß.

Bis zu 3000 Bademeister fehlen

Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fehlten im vergangenen Jahr bundesweit insgesamt 915 Bäder-Fachangestellte, die sich um die Technik kümmern, Wasserproben nehmen oder aufpassen, dass keiner untergeht. Andere Schätzungen liegen noch deutlich höher. Der Bundesverband Deutscher Schwimmmeister (BDS) etwa sieht die tatsächliche Personal-Lücke eher bei 3000.

Es klemmt längst nicht nur in den öffentlichen Schwimmbädern. Bereits seit Jahren suchen viele Unternehmen mit wachsender Verzweiflung nach Absolventen in den so genannten MINT-Fächern, also Mathematikern, Ingenieuren, Naturwissenschaftlern oder Software-Experten.

Personalmangel im klassischen Ausbildungsberuf

Inzwischen hat der Personalmangel auch die klassischen Ausbildungsberufe erfasst. Alleine im Handwerk seien „aktuell geschätzt 250.000 Stellen unbesetzt“, sagt der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Jörg Dittrich. Dazu fehlen zehntausende Erzieher, Pflegekräfte, Zugbegleiter, Bus- und Lkw-Fahrer - oder Kellner.

Weil das Personal in der Gastro inzwischen so knapp sei, müssten immer mehr Kneipen und Restaurants ihre Öffnungszeiten reduzieren oder einen Tag pro Woche ganz dicht machen, erklärt Thomas Geppert, Geschäftsführer beim Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) Bayern.

Auch in Kitas wird der Betrieb mittlerweile runtergeregelt. Statt wie üblich um 17.30 Uhr oder 18 Uhr muss der Nachwuchs zwischen Garmisch und Flensburg immer öfter schon zwei bis drei Stunden früher abgeholt werden. Berufstätige Mütter und Väter bringt das häufig ins Schwitzen.

Zugegeben: Der grassierende Personalmangel ist kein ganz neues Phänomen. „Arbeitskräfte“, sagt der Forschungsleiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Enzo Weber, seien „seit Längerem knapper geworden“. Doch mit der Corona-Pandemie habe sich die Situation „noch mal zugespitzt“. Zwar sei die Lage am Arbeitsmarkt wegen der zuletzt flauen Konjunktur nicht mehr ganz so angespannt wie „noch vor ein, zwei Jahren“. Aber neue Mitarbeiter seien „auch weiterhin nur schwer zu bekommen, und zwar über nahezu alle Branchen“.

Der Fachkräftemangel, erklärt auch der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des DIHK, Achim Dercks, treffe mittlerweile „die Breite der Wirtschaft“. Nach einer DIHK-Umfrage sahen zuletzt 58 Prozent der Unternehmen den wachsenden Fachkräftemangel als „erhebliches Geschäftsrisiko“, direkt hinter den hohen Energie- und Rohstoffpreisen.

Wie schwierig die Lage inzwischen ist, offenbart auch ein Blick in die Statistik. Nach einer Übersicht der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren zum Jahresbeginn 1,57 Millionen Stellen unbesetzt. Noch vor zehn Jahren waren es gut halb so viel. Die Zahl der offenen Stellen liege „weiterhin auf Rekordniveau“, sagt Alexander Kubis vom IAB in Nürnberg.

Fachkräftemangel wird zum „Standortrisiko“

Die wirtschaftlichen Folgen sind gewaltig. 75 Milliarden Euro an Wertschöpfung entgingen der deutschen Wirtschaft im laufenden Jahr, schätzt die DIHK. Dazu wachse bei den Unternehmen die Sorge vor steigenden Arbeitskosten und sinkender Investitionsbereitschaft. Der „Fachkräftemangel“, resümiert die Dachorganisation der regionalen IHKs in einer aktuellen Studie nüchtern, sei inzwischen ein „Standortrisiko“.

Und Besserung ist nicht in Sicht – im Gegenteil. Weil die geburtenstarke Boomer-Generation in den nächsten Jahren in den Ruhestand geht, dürfte sich die ohnehin angespannte Lage weiter  verschärfen. „Die wirklich schwierigen Jahre kommen erst noch“, befürchtet Arbeitsmarkt-Experte Weber.

Zu viele Alte, zu wenig Junge

Bis 2035 werden sich laut IAB rund sieben Millionen Arbeitskräfte in die Rente verabschieden. Zwar wachsen junge Menschen nach, aber das kann den Aderlass nicht kompensieren. „Ab sofort gehen jedes Jahr 100000 bis 250000 Personen mehr in den Ruhestand als in den Arbeitsmarkt eintreten“, rechnet der Wirtschaftsweise Martin Werding vor.

Bis 2040 sinkt der Arbeitskräftepool damit bundesweit um rund 2,7 Millionen Menschen. Vorausgesetzt, „die günstigen Trends bei der Zuwanderung und der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren“ setzten sich fort, betont Werding. Es könnte also auch noch schlimmer kommen. Was aber tun? Experten sehen vor allem fünf mögliche Ansatzpunkte:

1. Kita-Ausbau

Als zentraler Hebel gelten bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung fehlten derzeit trotz Rechtsanspruchs bundesweit über 400.000 Kita-Plätze, die allermeisten davon in den westdeutschen Bundesländern. Zwar kamen auch ein paar Plätze hinzu – seit 2020 rund 2500. Aber der Bedarf steigt eben noch schneller.

Um Beruf und Familie dennoch miteinander vereinbaren zu können, entscheiden sich vor allem junge Mütter sehr oft für einen Teilzeit-Job und bleiben dann auch dabei, selbst wenn die Kinder längst aus dem Haus sind. Die Teilzeitquote ist entsprechend hoch: Bundesweit arbeiten zwei von drei berufstätigen Frauen weniger als die übliche, tariflich vereinbarte Arbeitszeit von 38, 39 oder 40 Stunden.

Ein rascher und breiter Kita-Ausbau sei daher „ein ganz starker Hebel“, sagt IAB-Mann Weber. Das belegten auch Studien. Danach würden selbst Erwerbstätige, die mit ihrer Arbeitszeit eigentlich zufrieden seien, ihr Angebot ausweiten, „wenn sich die Rahmenbedingungen verbessern“.

2. Rentenanreize senken

Zugleich plädieren zahlreiche Verbände eindringlich für Korrekturen bei der Rente. „Die Ampel-Regierung muss die Anreize für eine Frühverrentung streichen“, fordert etwa Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger.

Ökonomen sehen das ähnlich. Man müsse die Anreize zum vorzeitigen Renteneintritt senken, drängt Monika Schnitzer, Chefin der Wirtschaftsweisen. Dazu müssten die Abschläge dafür erhöht – und die Rente mit 63 abgeschafft „oder zumindest auf Geringverdiener beschränkt werden, die tendenziell eine schlechtere Gesundheit haben“. Zudem müsse das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung angepasst werden, rät der Sachverständigenrat Wirtschaft.

Entsprechende Vorschläge hatte das Gremium im vergangenen Herbst vorgelegt. Bundeskanzler Olaf Scholz will davon allerdings nichts wissen. Immerhin: Ein bisschen bewegt sich die Ampel doch.

Um Arbeit auch nach Erreichen der Ruhestandsgrenze attraktiver zu machen, will die Ampel-Regierung nachsteuern. Künftig sollen etwa die Arbeitgeberbeiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung den Senioren nach Erreichen der Regelarbeitsgrenze direkt ausgezahlt werden, wenn sie länger dabei bleiben. Bei einem Durchschnittsverdiener entspreche das laut Koalition netto 250 Euro mehr im Monat.

Entsprechende Pläne hat die Bundesregierung noch kurz vor der Sommerpause auf den Weg gebracht. Arbeitgeberpräsident Dulger hält das für das richtige Signal: „Wer über die Rente hinaus arbeiten möchte, soll das auch auf dem Konto spüren.“ Außerdem sollen Überstunden steuerlich gefördert werden.

3. Arbeit soll sich mehr lohnen

Auch Ökonomen setzen auf bessere Anreize. Anstrengung müsse sich „im Geldbeutel deutlich bemerkbar machen“, mahnt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer. Die von der Ampel geplante Anschubfinanzierung für Bürgergeld-Empfänger bei Aufnahme eines neuen Jobs findet die Ökonomin richtig. Der Plan gebe den Betroffenen eine „finanziell reizvolle Perspektive“ und zahle sich am Ende „auch für den Staat aus“. Nach den Plänen der Koalition dürfen Langzeitarbeitslose künftig deutlich mehr von ihrem Verdienst behalten, ohne dass das auf das Wohngeld angerechnet wird.

4. Unternehmen müssen mehr für Fachkräfte tun

Gefordert sei aber auch die Wirtschaft, sagt Schnitzer. Es bedürfe „stärkerer Anstrengungen der Unternehmen, jungen Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Karriere zu ermöglichen“. Dass es sonst eng wird, merken selbst die ganz Großen. Auch bei Siemens sei es zunehmend schwieriger, Positionen innerhalb kurzer Zeit zu besetzen, insbesondere im MINT-Bereich, sagt Judith Wiese, Arbeitsdirektorin bei Siemens.

Etwa 20.000 Angestellte des Münchner Dax-Konzerns werden in den kommenden zehn Jahren in Rente gehen. Ihre Strategie sei daher die Aus- und Weiterbildung.

„Wir haben dafür schon seit Langem Konzepte und Ansätze entwickelt, bei denen wir analysieren, wie sich Märkte, Branchen und auch einzelne Standorte entwickeln und welche Kompetenzen unsere Mitarbeitenden in Zukunft benötigen“, erklärt die Vorständin für Personal und Nachhaltigkeit.

„Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe“, sagt auch BMW-Personalvorständin Ilka Horstmeier. Sie setzt auf eine ausgeglichene Altersstruktur im Unternehmen. Es sei wichtig, nicht erratisch zu agieren. So halte BMW die Zahl der Auszubildenden seit Jahren auf konstantem Niveau – auch in Zeiten, in denen der Bedarf mal weniger hoch sei. Zudem versucht der Konzern, gezielt junge Menschen ohne Berufsabschluss anzulocken, von denen es in Deutschland ohnehin zu viele gibt. In diesem Jahr hat ein Rekordwert von fast drei Millionen unter 35-Jährigen keine formale Qualifikation.

Großkonzerne wie BMW mögen es noch schaffen, Arbeitskräfte anzuziehen. Doch bei kleineren und mittleren Unternehmen sieht es schlechter aus – und von denen sind BMW und andere Großunternehmen oft abhängig. „Wir schauen natürlich nicht nur auf uns, sondern auch auf unsere Zulieferer, die wir genauso brauchen, um erfolgreich unser Geschäft zu machen“, räumt Horstmeier ein.

5. Steuerrabatt für ausländische Fachkräfte

Über die Hälfte der mittelständischen Automobilzulieferer klagt laut einer aktuellen Befragung über den Fachkräftemangel. 37 Prozent planen Investitionsverlagerungen ins Ausland. Und auch BMW hofft nicht nur auf Bewerber in Deutschland. „Wir gehen dorthin, wo die Talente sind“, sagt Horstmeier.

Besonders im Bereich IT mache es gar nicht immer Sinn, die Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen. So hat das Unternehmen unter anderem IT-Hubs in Portugal und Südafrika aufgebaut.

Doch wenn das Arbeitskräftepotenzial auch langfristig konstant bleiben soll, müssten nach Berechnungen des IAB pro Jahr 400.000 Menschen nach Deutschland ziehen – netto. Experten halten das für kaum realistisch. Zwischen 1991 und 2014 lag der Nettozuzug pro Jahr im Schnitt bei 194.000.

Um die Quote wenigstens ein bisschen zu verbessern, muss Deutschland deshalb generell attraktiver für Arbeitssuchende werden. Helfen würde etwa die leichtere Anerkennung ausländischer Abschlüsse, bessere Sprachförderung – und Integration, sagt IAB-Ökonom Weber.

Der von der Bundesregierung ins Spiel gebrachte Steuerrabatt für ausländische Arbeitskräfte trifft indes auf Skepsis. Steueranreize, so Weber, könnten zwar helfen. Doch er habe Zweifel, ob die Abstufung „eine große Wirkung“ entfalte.

Laut Vorschlag von Finanzminister Christian Lindner (FDP) sollen ausländische Arbeitskräfte beim Umzug nach Deutschland künftig einen dreistufigen Steuerrabatt bekommen: 30 Prozent Abschlag im ersten Jahr, 20 Prozent im zweiten und zehn Prozent im dritten.

Doch „was passiert, wenn der Steuerrabatt nach drei Jahren durch ist?“, fragt Weber. Ganz abgesehen von der Frage, wie es um den Betriebsfrieden bestellt wäre, wenn zwei Kollegen den gleichen Job machen, aber der Gehaltszettel am Monatsende völlig unterschiedlich ausfällt. Dazu kommen auch noch juristische Bedenken wegen des möglichen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Allzu viel Zeit jedenfalls bleibt wohl nicht mehr für bessere und praktikable Lösungen im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Wenn die Politik „weiterhin mutlos“ bleibe, werde die Zahl der offenen Stellen steigen, befürchtet Arbeitgeber-Präsident Dulger. Ökonomen sehen das ähnlich: „Wenn wir hier nichts tun“, mahnt auch Arbeitsmarkt-Experte Weber, „wird es in den nächsten Jahren richtig eng“. Verkürzte Freibad-Öffnungszeiten während der Sommerferien wären da noch das kleinste Problem.