Vom Marathon an die Front: Ukrainischer Athlet läuft in den Krieg

Vom Marathon an die Front: Ukrainischer Athlet läuft in den Krieg

Am 24. Februar wurde Dmytro von einem Anruf seiner Freunde aus Myrhorod geweckt: "Sie sagten, dass sie bombardiert werden. Zuerst habe ich das falsch verstanden und dachte, sie würden ausgeraubt. Ich konnte nicht begreifen, warum sie mich anriefen und nicht die Polizei."

Dmytro, ein erfahrener Marathonläufer und Ironman-Teilnehmer, war schon lange von der Disziplin und Einsamkeit des Langstreckenlaufs fasziniert. “Das Laufen ermöglichte es mir, meine Gedanken zu ordnen und meinen Geist aufzuräumen”, erzählte er Euronews.

Einen Marathon zu laufen war ein mentaler Kampf, ein Test der Belastbarkeit und eine Möglichkeit, sich selbst an seine Grenzen zu bringen.

Von den Laufschuhen zu den Kampfstiefeln

Zwei Tage nach dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine fasste er einen Entschluss und tauschte seine Laufkleidung gegen eine Militäruniform. "Ich habe zwei Tage lang darüber nachgedacht und habe mich dann bei den Territorialen Verteidigungskräften in Poltawa gemeldet", sagt Dmytro.

Dmytro bei den Territoriale Verteidigungsstreitkräften.
Dmytro bei den Territoriale Verteidigungsstreitkräften. - Foto zur Verfügung gestellt von Dmytro.

Die Fähigkeiten, die er sich im Laufe der Jahre antrainiert hatte, erwiesen sich als äußerst wertvoll, als Dmytro sich einer anderen Art von Marathon stellen musste. Krieg verlangt nicht nur körperliche Stärke, sondern auch immense emotionale und psychologische Belastbarkeit.

Selbst mitten im Kriegschaos lief Dmytro weiter mit einem seinem Kameraden Serhii. "Ich habe ihn vor dem Krieg trainiert. Wir waren immer zusammen: Patrouillen, Training, Laufen", erklärt Dmytro.

Im November 2023 wurde Serhii in der Nähe von Awdijiwka im Kampf getötet. "Wäre ich nicht verletzt gewesen, wäre ich bei ihm gewesen. Vielleicht wäre alles anders verlaufen."

Dmytro und Serhii.
Dmytro und Serhii. - Foto zur Verfügung gestellt von Dmytro.

"Das ist wahrscheinlich das Ende"

Dmytro wurde am 19. Januar 2023 bei einem Kampfeinsatz in der Nähe der ukrainischen Stadt Soledar in der Region Bachmut verwundet. Dmytro und sein Bataillon von einer feindlichen Aufklärungs- und Sabotagegruppe flankiert. Zusammen mit seinem Kommandeur und einem Kameraden rückte er näher an das Zentrum des Kampfes heran, bevor sie sich trennten.

"Ich bemerkte den Beschuss, der aus einem kleinen Dorf in der Nähe kam und begann das Feuer zu erwidern", sagt er und fügt hinzu, dass kurz darauf ein Schuss in seine Richtung abgefeuert wurde.

"Ich sah nur aus dem Augenwinkel, dass das Projektil auf mich zukam", erinnert er sich. Dmytro versuchte, sich in den Beobachtungsposten zu stürzen, um in Deckung zu gehen, aber er schaffte es nicht mehr rechtzeitig. Er erlitt eine schwere Verletzung: "Die Explosion schleuderte mich in einen Graben und mein erster Gedanke war: 'Das ist wahrscheinlich das Ende.' Aber dann öffnete ich die Augen und sah, dass meine Zähne auf dem Boden des Grabens verstreut waren. Ich war seltsam glücklich, denn das bedeutete, dass meine Augen nicht verletzt waren", sagt er.

Aber dann öffnete ich die Augen und sah, dass meine Zähne auf dem Boden des Grabens verstreut waren. Ich war seltsam glücklich, denn das bedeutete, dass meine Augen nicht verletzt waren.

Dmytro signalisierte seinem Kommandanten, dass er sich alleine evakuieren wollte, da seine Verletzungen nicht vor Ort behandelt werden konnten und er befürchtete, durch den Blutverlust das Bewusstsein zu verlieren. Schließlich machte er sich mit einigen seiner Kameraden auf den Weg, aber nach 100 Metern merkte er, dass er den Weg alleine bewältigen konnte.

"Ich sagte meinen Kameraden, sie sollten zurückkehren", fährt er fort. Dmytro ging zwei Kilometer weit, wobei er nach jeder Mörserexplosion zu Boden stürzte. "Als ich die nächste Stellung erreichte, erkannten mich unsere Soldaten nicht, weil ich blutüberströmt war." Um sich auszuweisen, musste er seinen Namen in den Schlamm schreiben.

"Wenn Sie die Nacht überstehen, fliegen wir Sie nach Kiew"

Kurz darauf wurde er nach Kramatorsk gebracht, wo er die erste Behandlung erhielt. Danach wurde er nach Dnipro verlegt. Dort sagten ihm die Ärzte: "Wenn Sie die Nacht überstehen, fliegen wir Sie nach Kiew. Wenn nicht, werden wir keine Zeit und Medikamente verschwenden." Am nächsten Morgen wachte er auf und wurde, wie versprochen, nach Kiew geflogen, wo sein langer Weg der Genesung begann.

"Bei dem Angriff wurden mein Kopf und meine Schulter von einem Schrapnell getroffen. Die Ärzte rieten davon ab, es zu entfernen. Es schien sich eingekapselt zu haben und nicht mehr zu bewegen", erklärt er und sagt, dass ihn diese Verletzung wahrscheinlich für den Rest seines Lebens begleiten werde. "Ein weiteres Schrapnell traf mich in der Seite, und eines durchbohrte meine linke Lunge, sodass sie kollabierte. Meine Nase wurde komplett abgerissen und fast alle meine oberen Zähne wurden ausgeschlagen und nur etwa vier oder fünf untere Zähne blieben übrig. Auch mein Unterkiefer war gebrochen", fügt Dmytro hinzu.

Nach unzähligen Operationen hat er den Überblick verloren. Die Ärzte konnten seine Nase wiederherstellen mit Haut und Knorpel aus seinen Ohren und Rippen. "Meine oberen Zähne wurden ersetzt und an den unteren Zähnen muss noch gearbeitet werden", fügt er hinzu.

Laufen zur Genesung?

Nach einigen Monaten begann Dmytro wieder zu trainieren, reduzierte aber schnell sein Training. Das Laufen hatte sich für ihn verändert, weil er jetzt nicht mehr das Bedürfnis hat, für Ergebnisse zu trainieren oder sich auf ein großes Rennen vorzubereiten, wie er es vor der russischen Invasion getan hatte. "Um einen Ironman zu überstehen, trainiert man acht bis neun Monate lang fast jeden Tag nach einem strengen Schema", erklärt er.

Jetzt trifft das nicht mehr auf ihn zu. "All das ist natürlich mit dem Krieg verbunden, denn man will nur eines: dass er schnell zu Ende geht. Er darf nicht mit einer Kapitulation oder Niederlage für uns enden. Es gibt einfach keine andere Möglichkeit", fügt er hinzu.

Er erwähnt, dass das Laufen ihm immer noch eine gewisse mentale und körperliche Befriedigung verschaffe. Es ist jedoch unvergleichbar mit dem Gefühl, das er vor der vollständigen russischen Invasion hatte.

Dymtros Medallien.
Dymtros Medallien. - Foto zur Verfügung gestellt von Dmytro.

Der Kiewer Nova-Post-Marathon beginnt ohne Pistole

"Mein Körper reagierte schmerzhaft auf laute Geräusche, besonders in den ersten Monaten", erklärt er. Sein erster Instinkt war, sich zu ducken oder auf den Boden zu fallen – manchmal unbewusst. "Mit der Zeit begann ich mich zu beruhigen, aber mein Körper zuckt immer noch bei lauten Knallgeräuschen zusammen, wie zum Beispiel Autohupen. Einmal hörte sich ein gerissenes Abschleppseil wie ein Schuss an und ich fand mich zusammengekauert auf dem Boden wieder", erinnert er sich. Das Geräusch von Pistolenschüssen spielt auch beim Marathon eine Rolle, wo die Pistole den Start des Rennens markiert.

Kürzlich, beim ersten Kiewer Nova Post barrierefreien Marathon, führten die Organisatoren ein neues Startgeräusch ein, das die Pistole ersetzte. Dieses neue Geräusch, "Start without a shot", wurde in Zusammenarbeit mit PTBS-Experten [Posttraumatische Belastungsstörung] und Sounddesignern entwickelt, um die Veranstaltung für Menschen, die wie Dmytro empfindlich auf Schussgeräusche reagieren, erträglich zu machen.

Einen Monat lang arbeitete ein internationales Expertenteam, darunter Klangkünstler von Barking Owl in Los Angeles, PTSD-Spezialisten, Experten von Nova Post und Psychoakustikforscher des Igor Sikorsky Kyiv Polytechnic Institut, zusammen, um einen neuen Startsound für Marathons zu entwickeln. Diese Initiative wurde durch die Notwendigkeit ausgelöst, das traditionelle Pistolensignal zu ersetzen, das bei den Teilnehmern, insbesondere bei Veteranen, ein Trauma auslösen kann.

Kiewer Nova Post barrierefreier Marathon.
Kiewer Nova Post barrierefreier Marathon. - Sefanyak_Yurii/Stefanyak Yurii, All RightsReserved

Die endgültige Komposition weist eine dreiteilige Struktur auf: einen Countdown zur Vorbereitung der Läufer, ein unverwechselbares synthetisches Startsignal, das sich vom Lärm abhebt und ein resonantes Echo, das die Gemeinschaft fördern soll. Nach Angaben der Organisatoren des Marathons haben die Tests gezeigt, dass dieser innovative Sound das Stressniveau im Vergleich zum Startschuss deutlich reduziert.

"Es ist eine fantastische Initiative", sagt Dmytro und fügt hinzu, es ist ermutigend zu wissen, dass es Menschen in Unternehmen, wie Nova Post, gebe, die darüber nachdenken, daran arbeiten und es auch umsetzten.

Geräusche, die PTBS auslösen können

Laute Geräusche wie Luftabwehrsysteme, Explosionen oder sogar zuschlagende Türen können auch im öffentlichen Raum starke Reaktionen auslösen. "Ich habe gesehen, wie Männer zusammenbrachen, Krampfanfälle bekamen oder das Bewusstsein verloren", fügt Dmytro hinzu. In seinem Fall führt er einen inneren Dialog, um sich daran zu erinnern, dass er nicht an der Front ist. "Ich habe anderthalb Jahre lang hohe Dosen von Antidepressiva eingenommen und bin jetzt seit einem Monat ohne. Es ist schwer. In einem Moment fühle ich mich großartig, im nächsten bin ich gereizt oder ängstlich", erklärt er.

Dmytro und seine Frau bei dem Nova Post Marathon in Kiew.
Dmytro und seine Frau bei dem Nova Post Marathon in Kiew. - Foto zur Verfügung gestellt von Dmytro

Für ihn hilft es, beschäftigt zu bleiben. Da er noch nicht aus dem Militär entlassen wurde, sammelt er Spenden und versteigert Kriegsandenken, um seinen Kameraden zu helfen. "Das hält mich verbunden und lindert die Schuld, Freunde verloren zu haben."

Russland greift alle Regionen des Landes regelmäßig mit Drohnen und Raketen an, was eine Atmosphäre des Terrors erschaffen hat. Für Ukrainer ist der Klang von Luftschutzsirenen fast zur Normalität geworden, doch das Leben in einem ständigen Zustand der Angst fordert seinen Tribut.

Ich habe verstanden, dass die mentale Gesundheit noch wichtiger ist als die körperliche.

"Ich habe verstanden, dass die mentale Gesundheit noch wichtiger ist als die körperliche", sagt Dmytro. "Wenn du dich innerlich gut fühlst, wird auch alles Äußere in Ordnung sein." Er betont, wie wichtig es ist, an seiner psychischen Gesundheit zu arbeiten, indem man einen Therapeuten aufsucht und Hobbys nachgeht. "Als ich im Krankenhaus war, kam ein Psychologe mit einem Künstler und wir malten. Es half tatsächlich, den Druck zu mindern und Aggressionen abzubauen. Es war meine eigene Kreativität, die mir half, mich neu zu fokussieren", erinnert er sich.

"Es funktionierten auch diese kleinen Schritte. Ein Psychologe ist dennoch unerlässlich, absolut unerlässlich. Wenn jemand mit PTBS oder Kriegstraumata sagt, er braucht keinen Psychologen, ist das oft das erste Anzeichen dafür, dass er einen braucht", sagt er.

Dmytro und seine Frau nach dem Marathon.
Dmytro und seine Frau nach dem Marathon. - Foto zur Verfügung gestellt von Dmytro.

Geld für Drohnen oder Marathons ausgeben?

"Manche Leute sagen, wir brauchen Marathons nicht und, dass wir statt Geld für Rennen auszugeben, Drohnen kaufen sollten. Ja, Drohnen werden dringend benötigt, aber auch diese Veranstaltungen sind wichtig. Marathons, öffentliche Events und generell Förderungen, um Veteranen bei der Verwirklichung ihrer Ideen und Träume zu unterstützen, sind essenziell", sagt er.

Der Krieg ist wie ein Katalysator, bei dem du all deine Überzeugungen und Ideen filterst und anfängst, die Dinge anders zu sehen.

Denn auch in der dunkelsten Zeit werden Träume geboren. "Im Krieg kommen dir viele Gedanken und Ideen. Der Krieg ist wie ein Katalysator, bei dem du all deine Überzeugungen und Ideen filterst und anfängst, die Dinge anders zu sehen", schließt Dmytro.