Massenvertreibungen durch Taliban: Hazara schlagen Alarm
Während der harte afghanische Winter immer näher rückt, weiten die Taliban offenbar die systematischen Vertreibungen in einigen Regionen immer weiter aus. Besonders betroffen ist die Volksgruppe der Hazara.
Hazara-Aktivist:innen und -Verbände aus der Diaspora schlagen deshalb nun online Alarm. Eine Twitter-Kampagne unter dem Hashtag #StopHazaraForcedDisplacement soll auf das Ausmaß und die Hintergründe der Vertreibungen aufmerksam machen.
Nach Angaben von Hazara-Gruppen in Australien wurden geschätzt bereits über 1000 Familien in den Provinzen Daikondi und Helmand aus ihren Häusern vertrieben. 3000 Haushalten wurde demnach in Daikondi ein Ultimatum zur Räumung gestellt, etwa 2000 weiteren in Masar-e-Scharif. Auch aus einigen anderen Regionen und dem Kabuler Stadtteil Dascht-e-Bartschi wurden bereits Vertreibungen gemeldet. Insgesamt sind damit Zehntausende Menschen betroffen. Die bereits vertriebenen Familien leben oftmals unter elenden Bedingungen in improvisierten Zelten oder Höhlen in den Bergen, sie durften in der Regel keine Vorräte mitnehmen und sind nur schlecht auf den Winter vorbereitet.
Since the forceful takeover of Afghanistan by Taliban on August 15 2021, thousands of Hazara families have been forcefully displaced from their ancestral lands.
Video by Naz Amini #StopHazaraForcedDisplacement #StopHazaraGenocide pic.twitter.com/EBcINNDEJj— Zohal Azra (@ZohalAzra) October 17, 2021
Von Vertreibungen betroffen sind unter anderem auch Tadschiken im Pandschir-Tal und Angehörige ehemaliger Sicherheitskräfte in Kandahar, doch Hazara machen die bei weitem größte Zahl aus. Über das Vorgehen der Taliban haben in den vergangenen Wochen bereits mehrere internationale Medien berichtet, unter anderem der "Spiegel". Die Kämpfer berufen sich demnach auf "Urteile" von Taliban-Richtern, die die Grundstücke paschtunischen Landbesitzer zusprechen.
Den Hazara zufolge haben die Beschlüsse keine legale Grundlage, es gehe lediglich um Rache, da sie oftmals mit internationalen Truppen zusammengearbeitet hatten, sowie um die Belohnung loyaler Taliban-Anhänger. Bei Widerstand wird mit Gewalt gedroht, teils umgehend mit der Zerstörung von Häusern begonnen.
Taliban set alight homes of marginalised, Hazara ethnic people of Daikundi Afg, forcing them out of their generational lands. Where is the international outrage? This is clearly ethnic cleansing #StopHazaraForcedDisplacement pic.twitter.com/mh5JsPJ9C8
— shikofa (@hazaristan_) October 18, 2021
"Sie haben das Land seit Generationen kultiviert. Es ist ihre einzige Lebensgrundlage und sie haben jahrelang gearbeitet, um es fruchtbar zu machen", schreibt Aktivist Reza Nasiri. "Jetzt haben die Taliban ihre eigenen Soldaten dort angesiedelt".
Zwar sollen in einigen Fällen die Urteile durch höhere Instanzen in Kabul ausgesetzt worden sein, bisher seien aber noch keine Hazara-Familien zurückgekehrt, da ihre Häuser bereits durch Taliban besetzt seien, die keine Anstalten machen, diese wieder zu verlassen.
The Taliban interior ministry has promised to give land to families of suicide bombers. More than 150 #Hazaras were killed by suicide bombers in the Kundaz mosque attack alone.#TalibanTerrorists #StopHazaraForcedDisplacement https://t.co/GILAUu4ZSQ
— Zohal Azra (@ZohalAzra) October 19, 2021
Noch am Dienstag kündigte das von dem berüchtigten Terroristen Siradschuddin Haqqani geführte Innenministerium der Taliban an, an die Familien von Taliban-Selbstmordattentätern Land zu verteilen. Hazara waren und sind dabei besonders häufig Ziel von Selbstmordattentaten.
Viele Aktivst:innen erinnern unter anderem in Videobeiträgen auch an die leidvolle Geschichte der mehrheitlich schiitischen Hazara, die seit Jahrhunderten wegen ihres Glaubens und aus rassistischen Gründen diskriminiert und Verfolgt werden. Immer wieder kam es dabei auch schon zu Vertreibungen durch Paschtunen. Grausamer Höhepunkt war ein Genozid unter dem von den Briten gestützten Emir Abdur Rahman Khan in den 1890ern, bei dem nach Schätzungen etwa 60 Prozent der damaligen Hazara-Bevölkerung getötet, versklavt oder in Nachbarländer vertrieben worden sind.
Auch die Taliban töteten während ihrer ersten Herrschaft Tausende Hazara. Nach ihrem Sturz blieben die Hazara vielfach benachteiligt und wurden oftmals Ziel von Anschlägen und gezielten Tötungen durch unterschiedliche militante Gruppen, vor denen sie sich durch die frühere afghanische Regierung nur unzureichend geschützt sahen.
This is the main Go Fund Me page for the displaced families. Please share the link and donate. If you have any questions, please get in touch with @HazaraIntl. #HazaraForcedDisplacement https://t.co/BXlhQFota9
— Zohal Azra (@ZohalAzra) October 18, 2021
Zu den Forderungen der Hazara, die etwa in offene Briefen an die Regierungen Großbritanniens und Australiens (in beiden Ländern leben große Hazara-Communities) ausformuliert sind, zählen schnelle humanitäre Hilfe und stärkerer internationaler Druck auf die Taliban, die nach der Machtübernahme versichert hatten, marginalisierte Gruppen zu schützen. Zudem müssten Hazara die Flucht aus Afghanistan erleichtert und ihnen ein besonderer Schutzstatus zugesprochen werden. Dazu zirkuliert ein Spendenaufruf des britischen Hazara-Komitees, das die vertriebenen Familien unterstützen will.
#StopHazaraForcedDisplacement
3.ISIS is the butcher that slits our throat while the Taliban holds us down so we don’t escape.— Hojjat. (@Kohnahdeh) October 18, 2021
Gerade in Hinblick auf die jüngsten IS-Anschläge auf schiitische Moscheen, denen ebenfalls vorwiegend Hazara zum Opfer gefallen sind, warnen viele Hazara davor, die Taliban etwa als kleineres Übel oder sogar möglichen Partner im Kampf gegen den IS zu akzeptieren. Die Hazara hätten nicht den Luxus, zwischen den beiden Gruppen zu unterscheiden, schreibt Aktivist Hojjat Yakobi: "ISIS ist der Metzer, der uns die Kehle aufschneidet, während die Taliban uns niederdrücken, damit wir nicht entkommen."
Video: Imam fordert von den Taliban mehr Schutz vor dem IS