Meinungsbeitrag von Psychologin Lackner - Parteiprogramm unter der Lupe (Teil 4) - wie populistisch die AfD per Asylfrage triggert
Im September stehen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an. Psychologin Martina Lackner analysiert verschiedene Schwerpunkte aus dem Parteiprogramm der AfD und entlarvt dadurch psychologische Tricks der rechten Partei - dieses Mal beim Thema Asylpolitik.
Die deutsche Asylpolitik – Der größte Treiber für rechtsextreme Strömungen?
Auszug aus dem Parteiprogramm: „Das europäische Freizügigkeitsrecht hat in seiner Ausprägung der Personenfreizügigkeit zu massiven Wanderungsbewegungen innerhalb der EU aus den ärmeren in die reicheren Staaten, besonders nach Deutschland, allein zum Zweck des Sozialhilfebezugs geführt.“
Interessant ist in diesem Kapitel die mehrmalige Wiederholung des Wortes „Missbrauch“ bzw. der Hinweis auf den Betrug.
Abgesehen davon, dass viele Menschen kriminalisiert und pauschal verurteilt werden, finde ich die Wortwahl aus rein psychologischer Sicht „brillant“: Wenn Sie Menschen suggerieren, dass sich andere bereichern, indem man alle als Schmarotzer bezeichnet, schürt das den Sozialneid einer Gesellschaft und bringt natürlich Wählerstimmen. Das Parteiprogramm setzt auf Sprachbilder, die das emotionale Gefühlsleben der Menschen triggern. Manche Menschen springen darauf an, andere nicht. Habe ich selbst genug Einkommen, Anerkennung und Wertschätzung, lebe ich nicht in einem permanenten Gefühl des Mangels, und ich habe kein oder wenig Störgefühl damit, dass Menschen in das deutsche Sozialversicherungssystem einwandern.
Mein Aggressionspegel erhöht sich nur, wenn ich einen Mangelzustand empfinde: „Die anderen bekommen mehr als ich, sie werden bevorzugt.“ Oder aber ich fühle mich bedroht, entweder weil ich Angst vor der Gewalt von Flüchtlingen habe, die immer wieder als Thema in den Medien stark in den Vordergrund tritt, oder weil ich Angst vor der Überfremdung habe. In diesem Fall wird die eigene Identität in Frage gestellt.
Wenn wir von der faktischen auf die emotionale Ebene wechseln, sind Flüchtlinge für manche Deutsche eine Projektionsfläche eigener ungelöster Konflikte und Themen, die sowohl individuell als auch strukturell bedingt sind. Strukturell, weil aus der Sicht von AfD Wählern Politiker viele Bedürfnisse von Menschen ignoriert haben, Menschen zu Sündenböcken gemacht und keine Wertschätzung gezeigt haben.
Geringe Wertschätzung und fehlende Anerkennung sind für mich einer der Treiber rechtsextremer Strömungen. Bei der AfD scheinen sich Menschen wertgeschätzt zu fühlen, weil man ihnen hier auch ein Milieu, eine „Heimat“ bietet: „Denen da oben zeigen wir es.“ Individuell, weil ein Bedrohungsszenario bereits in der Persönlichkeit von Wählern angelegt sein muss, damit es durch ein Wahlprogramm wie dieses seine Wirkung beim Wähler entfalten kann.
Beginnen wir mit der Unterstellung, dass niedrigqualifizierte Einwanderer missbräuchlich in die deutschen sozialen Sicherungssysteme einwandern:
Auszug aus dem Parteiprogramm: „Niedrigqualifizierte wandern überwiegend über missbräuchliche Asylanträge zu und sind auf die steuerfinanzierten sozialen Sicherungssysteme angewiesen. Qualifizierte Einwanderer bevorzugen Staaten mit geringer Steuerlast.“
Diese Aussage steht im Widerspruch zur Analyse der aktuellen Situation in Europa.
Auszug aus dem Parteiprogramm: Eine Völkerwanderung historischen Ausmaßes fordert Europa heraus. Im Hinblick auf Bevölkerungsexplosion, kriegerische und religiöse Konflikte sowie Klimaextreme in vielen Ländern, insbesondere des afrikanischen Kontinents und des Nahen und Mittleren Ostens, stehen wir erst am Anfang weltweiter, bislang unvorstellbarer Wanderungsbewegungen in Richtung der wohlhabenden europäischen Staaten.
Wer aus einem Kriegsgebiet flieht, denkt nicht primär an einen missbräuchlichen Tatbestand, sondern sucht Schutz und eine neue Heimat. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass einige Menschen hoffen, in Deutschland einen besseren Lebensstandard vorzufinden als anderswo. Es gibt sicherlich Menschen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen sind und sich das „Paradies Deutschland“ erhoffen und dieses auch in vollem Umfang nutzen wollen. Aber zum Paradies gehören immer zwei: der Flüchtling und der Staat, der es ermöglicht.
Deutschland betreibt eine sehr wohlwollende Zuwanderungspolitik. Zum einen suchen wir händeringend Fachkräfte, und auch Niedrigqualifizierte. Die Niedrigqualifizierten sind es, die Ihren Haushalt putzen, Ihr Haus bauen und die Autobahnen reparieren. Während Deutschland von der Vier-Tage-Woche träumt, muss ja irgendjemand die „niederen Dienste“ erledigen. Dazu braucht es auch Geringqualifizierte.
Abgesehen davon, dass die Problematik der Migration und die Lösungsansätze ein sehr komplexes Feld sind und auch auf EU-Ebene bisher kein Konsens gefunden werden kann, bleibt zudem die Frage der Schuld. Eine emotionale Schuld, die man auch nach 80 Jahren zu begleichen versucht, indem man der Welt zeigen will: „Wir retten euch, wir haben etwas wieder gut zu machen.“ Um deutsche Lösungsansätze zu finden, ist es an der Zeit, eine alte Schuld loszulassen.
Nicht vergessen, aber aufhören, sich übermäßig mit Weltrettung zu beschäftigen, weil dadurch der Blick auf vernunftgeleitete und pragmatische Maßnahmen verstellt ist. Das Weltbild von Menschen, die sich schuldig fühlen, oder meinen sich schuldig fühlen zu müssen, ist ein mentales Konstrukt, indem sie nicht mehr wahrnehmen, was ihr Tun an Konsequenzen auslöst. Zudem glauben sie, keine Handlungsoptionen mehr zu haben. Weil es bei der Schuldfrage (wenn sie zu groß ist und nicht mehr geleugnet werden kann) immer nur eine Lösung gibt: die Schuld zu begleichen.
Was ist eine Lösung der AfD?
Auszug aus dem Parteiprogramm: „Die Versorgung unseres Landes mit qualifizierten Arbeitskräften muss in erster Linie über die vollständige Erschließung der einheimischen Potenziale erfolgen. Hierzu zählen eine umfassende Aus- und Weiterbildung, die Integration von immer noch Millionen zählenden Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt und die Beendigung der Diskriminierung von älteren Arbeitnehmern und von Alleinerziehenden.“
Diesen Absatz finde ich interessant, weil klar ist, dass man durch ältere Arbeitnehmer und Alleinerziehende den Fachkräftemangel niemals vollständig decken kann. Auch nicht über Arbeitslose in Deutschland. Ein Großteil dieser Arbeitslosen ist entweder physisch, oder psychisch nicht in der Lage, einem Job nachzugehen, oder diese haben überhaupt keine Qualifikationen, insbesondere keine social skills, wie z.B. Durchhaltevermögen, Disziplin... Der Rest an Menschen, die man hier in Arbeitsverhältnisse zuführen könnte, reicht bei weitem nicht aus, um den Fachkräftemangel entgegenzutreten.
Frauen, als die eigentlich größte potenzielle Zielgruppe, werden hier nicht erwähnt. Wir wissen, dass ca. die Hälfte aller deutschen Frauen nur Teilzeit erwerbstätig ist. Aus gutem Grund: Sie sind mit Care-Arbeit beschäftigt, und das soll laut dem Kapitel zur Familienpolitik auch so bleiben. Denn die AfD vermutet darin das größte Potenzial der zukünftigen Arbeitskräfte. In 20 Jahren, wenn wir jetzt beginnen.
An dieser Stelle braucht es keine Psychologie, sondern Mathematik, um zu errechnen, dass der Fachkräftemangel nicht einmal annähernd über die oben erwähnten Maßnahmen gedeckt werden kann.
Einen Satz aus dem Parteiprogramm erlaube ich mir allerdings positiv hervorzuheben:
Auszug aus dem Parteiprogramm: „Jeder Einwanderer hat eine unabdingbare Bringschuld, sich zu integrieren; er muss sich seiner neuen Heimat anpassen, nicht umgekehrt.“
Das ist für mich der „Schuldparagraf“. Die Bringschuld muss eingefordert werden, weil man nicht davon ausgehen kann, dass sie automatisch erfolgen wird. Dass die Bringschuld nicht eingefordert wurde und teilweise noch immer nicht eingefordert wird, steht für mich ebenfalls in unmittelbarem Zusammenhang mit der emotionalen Schuld, die wie ein „Perpetuum Mobile“ am Laufen gehalten wird. Von der Regierung, aber auch von Teilen der Weltgemeinschaft. Wenn sich eine Gesellschaft schuldig fühlt, im konkreten Fall, sind Politiker die Vertreter der Gesellschaft, werden sie wenig dazu tun, Forderungen zu stellen und Klartext sprechen. Sie reagieren eher als sie agieren. Sie lassen geschehen.
Die Integration bzw. Anpassung hat nicht funktioniert, nicht nur weil unter den Flüchtlingen integrationsunwillige Menschen waren, sondern weil Deutschland in kürzester Zeit ohne Konzept mit dem Thema Integration konfrontiert wurde.
Und warum gab es (und gibt es nach wie vor) kein ausreichendes Integrationskonzept?
Damit Sie verstehen, was ich unter wirklicher Integration verstehe: z.B. keine Ghettobildung in Städten oder Stadtvierteln, sondern eine flächendeckende Verteilung von Flüchtlingen. Das heißt auch eine Unterbringung der Flüchtlinge in Schwabing oder Hamburg-Blankenese, oder eine psychologische Betreuung. Wir wissen, dass Menschen aus Kriegsgebieten posttraumatische Belastungsstörungen haben. Es sind behandlungsbedürftige Menschen mit psychischen Erkrankungen nach Deutschland gekommen. Und dazu teilweise aus extremen Gewaltstrukturen, die sich unter anderem aus dem religiösen Hintergrund ergeben. Das alles müsste psychologisch bearbeitet werden.
Und jetzt sind wir bei der eigentlichen Problematik:
In manchen Stadtvierteln will die AfD bzw. deren Wähler Flüchtlinge ganz bestimmt nicht haben, und man will sie auch nicht in ganz bestimmten Positionen haben. Ein afghanischer Bürgermeister in Thüringen vielleicht? Wären da nicht Fluchtbewegungen und der Fachkräftemangel, wäre man lieber unter sich. Flüchtlinge stören aus der Sicht der AfD und Teilen der Gesellschaft den Seelenfrieden, die Sicherheit und das religiöse und kulturelle Empfinden der Gesellschaft.
Aus psychologischer Sicht ist das zu verstehen. Wenn man lange Zeit in einem christlichen Milieu und in einer „deutschen Blase“ gelebt hat, wurde man nicht konfrontiert mit extrem fremden Einflüssen in kultureller und religiöser Hinsicht, die dem christlichen Weltbild und demokratischen Werten diametral entgegenstehen. Und das erzeugt ein spannungsgeladenes kollektives Gefühl, das man ganz einfach loswerden möchte. Und der Regierung, die aus der Sicht mancher Deutscher mit Abwertung und Missachtung unterwegs war, möchte man einen Denkzettel verpassen.
Aber: Sie sind nun mal da, die Flüchtlinge. Und vermutlich werden noch mehr kommen. Was wir brauchen, ist neben strengeren Regularien eine anpassungswillige deutsche Gesellschaft an veränderte Lebensbedingungen. Das Konzept der AfD ist ein verschleierter Versuch, mit teilweise sehr rechtem Gedankengut eine uralte Ordnung wiederherzustellen. Und die Wiederherstellung einer alten Ordnung geht in der Regel nur mit diktatorischen Maßnahmen einher.