„Menschliche Wellenangriffe“ - Für blutigen Ukraine-Vormarsch setzt der Kreml-Diktator voll auf eine alte Taktik
Russland nutzt eine alte perfide Taktik und gleichzeitig neue Strategien, um an der Front durchzubrechen. Den Ukrainern fehlen die Mittel, um dagegen zu halten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit – und um Territorium.
Russland hat in jüngster Zeit seine Bemühungen deutlich verstärkt, weitere Gebiete der Ukraine an sich zu reißen. Die bereits besetzten Gebiete im Osten des Landes reichen nicht aus. Der russische Präsident Wladimir Putin will mehr.
Der Kreml sei nicht bereit, Kompromisse einzugehen oder sich auf Verhandlungen in gutem Glauben einzulassen – ganz gleich, wer bei solchen Gesprächen vermittelt, schreiben die Analysten des Institute for the Study of War .
Der Vermittler, der diese Verhandlungen forcieren soll: Donald Trump. Der wiedergewählte Ex-US-Präsident wird im Januar vereidigt. Bis dahin versuchen beide Seiten im Krieg ihre Verhandlungsmasse zu stärken – etwa in Form von Territorium.
Auf russischer Seite greift man dafür offenbar auf eine archaische Taktik zurück – aber auch auf neue Strategien. Mit Erfolg.
Ostfront-Gefechte im Ukraine-Krieg: So heftig wie noch nie
An der Ostfront wird das dieser Tage deutlich. Dort gehe es derzeit so heftig zur Sache, wie noch nie, berichtet die „ Bild “. Reporter Paul Ronzheimer trifft den Brigade-Offizier Andrij in der Region Pokrowsk. Der vermutet, die massiven Angriffe haben „vielleicht etwas mit den US-Wahlen zu tun“.
Mit Trumps Sieg begann die Uhr für beide Seiten schneller zu ticken. Trump hat angekündigt, dem Krieg ein Ende zu setzen und die Hilfe für die Ukraine deutlich einzuschränken.
Der amtierende US-Präsident Joe Biden hatte nach der Wahlniederlage der Demokraten den Beschuss russischen Territoriums mit US-Langstreckenraketen seitens der Ukrainer genehmigt. Die Ukraine soll so das Territorium in der russischen Region Kursk halten können, um es als mögliche Verhandlungsmasse einsetzen zu können.
Putin reagierte darauf, indem er erstmals eine Interkontinentalrakete auf die Ukraine feuerte – und seine Bemühungen, an der Front vorzustoßen, intensivierte.
„Sie haben uns mit menschlichen Wellenangriffen überrollt“
Was Andrij nun an der Front erlebt, wurde im Verlauf des Krieges immer wieder beobachtet: „Sie haben uns mit menschlichen Wellenangriffen überrollt“, sagt der Offizier zu „Bild“. „Wir konnten bis zu 30 russische Soldaten pro Tag töten.“
Im Sommer, so Andrij weiter, hätten seine Soldaten die Rotation der russischen Einheiten gespürt. „Sie zogen alte Einheiten ab und brachten neue.“ Die neuen Einheiten hätten sofort mit Angriffen begonnen. „Massiver Artilleriebeschuss, dann versuchten sie, unsere Stellungen zu durchbrechen und einzunehmen.“
Jüngst hat dieses Vorgehen der russischen Streitkräfte südlich von Pokrowsk zum Erfolg geführt . Putins Truppen erzielten dort einen unerwarteten Durchbruch. Die ohnehin in Unterzahl agierenden ukrainischen Streitkräfte wurden überrumpelt und die Frontlinie um etwa 20 Kilometer ins ukrainische Hinterland verlagert – mehr Verhandlungsmasse für den Kreml.
„Rekruten werden geopfert, massakriert“
Wie jene Wellenangriffe aussehen, auf die russische Offiziere und Unteroffiziere im dritten Kriegsjahr erneut zurückgreifen, zeige eindringlich der Film „Wege zum Ruhm“, sagt der Militärexperte Albert Stahel gegenüber FOCUS online.
Im Anti-Kriegs-Drama von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1957 schickt der ehrgeizige General Mireau seine Soldaten im Ersten Weltkrieg auf ein Himmelfahrtskommando – und erleidet immense Verluste. Stahel erklärt:
„Auf ein Kommando erklimmen Soldaten, in dem Fall Infanteristen, die Schützengräben und stürmen auf die feindlichen Stellungen zu. Dabei werden sie durch die eigene Artillerie und sogenannte Erdkampfflugzeuge unterstützt, die durch das Niederhaltefeuer die gegnerischen Soldaten in deren Schützengräben blockieren. Der Gegner versucht mit der eigenen Artillerie (und Kampfflugzeugen), den Sturmangriff zu zerschlagen.“
Die anstürmenden Soldaten enden als „Kanonenfutter“. In Regimes, wie jenes von Putin, werden die dafür eingesetzten Rekruten geopfert, massakriert“, sagt Stahel.
Bei solchen Manövern rennen viele von ihnen in den sicheren Tod. Warum sie das tun? Aus Angst: „Die ´Motivation´ für die Angriffe erzeugen die Offiziere durch die Androhungen von Erschießungen“, sagt Stahel.
„Russen haben ihre Taktik geändert“
Doch nicht alles an der aktuellen Taktik der Russen ist alt. „Die Russen haben ihre Taktik im Vergleich zum letzten Jahr geändert“, erklärt Andrij weiter gegenüber „Bild“. Neu ist: „Sie haben FPV-Drohnen, reguläre Drohnen. Sie kämpfen auf demselben Niveau wie wir. Sie haben gelernt.“
Und weiter: „Sie finden unsere Stellungen und beschießen sie massiv. Manchmal treffen sie, und das ist für uns sehr schmerzhaft. Nach dem Beschuss schicken sie eine Erkundungsangriffsgruppe von drei bis fünf Soldaten“, so der ukrainische Soldat.
Insgesamt rückt Russland in der Ukraine immer schneller vor . Andrii Biletskyj, Kommandant der dritten Angriffsbrigade der Ukrainer, sagte laut dem Nachrichtenportal „ Ukrainska Pravda “, die aktuell größten Probleme an der Front seien:
Personalmangel, fehlende Motivation, unzureichende Ausbildung und mangelnde Ausrüstung;
der Winter, der den Einsatz ukrainischer Drohnen erschwere, während Russland von Nordkoreas Munitionslieferungen profitiere;
nordkoreanische Waffenlieferungen – ohne würde Russland unter akuter Munitionsknappheit leiden;
die schleppende Mobilisierung, die zu einer chronischen Unterbesetzung der ukrainischen Fronttruppen führe;
mangelnde Soldatenmotivation durch klare Pläne, gute Führung und ausreichende Versorgung seitens der Regierung Selenskyj;
zu wenige gut qualifizierte Ausbilder, um dem Personalmangel an der Front zu begegnen und
eine teils unehrliche Kommunikation der Regierung mit der Gesellschaft über den Krieg.
Biletskyis Aussagen verdeutlichen die russischen Front-Vorteile einmal mehr. Zwar stünden sie vor ganz ähnlichen Problemen wie die Ukrainer: Mangel an Ausrüstung, Munition und Motivation belasten demnach auch Putins Truppen.
Allerdings verfügen sie Biletskyis zufolge über zwei entscheidende Vorteile: den Einsatz von Gleitbomben, die die Lage an der Front erheblich beeinflussen würden, sowie die große Zahl an Soldaten, die sie für jeden gewonnenen Meter opfern.
Militärexperte Albert Stahel meint: Dass die Russen im Gegensatz zu den Ukrainern über ein riesiges Potenzial an „Kanonenfutter“ verfügen, sei am Ende vermutlich kriegsentscheidend.