Messer-Attentat von Solingen - Die Rolle der grünen Flüchtlingsministerin im Abschiebe-Desaster wirft viele Fragen auf
Manche Politiker werfen gerne Nebelkerzen, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Nach dem Anschlag von Solingen gilt dies auch für so manche Grünen-Politiker, die in Wahrheit nichts von der Asyldebatte um Grenzkontrollen, beschränkte Zuwanderung und einen härteren Abschiebekurs halten.
So machte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Irene Mihalic, die Innenminister von Bund und Ländern dafür verantwortlich, den Vollzug von Abschiebungen besser zu organisieren. „Die rechtlichen Regelungen sind ja glasklar“, erklärte die Grünen-Politikerin.
Bei dem islamistischen Messer-Attentäter Isaa al Hasan allerdings versagte der Abschiebeapparat wie so oft zuvor. Der 26-jährige Syrer hätte nach dem Dublin-Abkommen in das EU-Ersteinreiseland Bulgarien abgeschoben werden sollen. Das Unterfangen scheiterte kläglich. FOCUS online hatte zuerst darüber berichtet.
Nur zehn bis 15 Prozent der Dublin-Ausreisefälle können jährlich durchgeführt werden. Bleibt die Frage, was die Bundesregierung auch im Austausch auf EU-Ebene getan hat, um eine bessere Quote zur erzielen. Antwort: nichts bis wenig, was sich als Erfolg verbuchen ließe.
Grünen haben sich in Ampel-Koalition bekanntlich nicht sonderlich hervorgetan
Bei ihrem Statement ließ die Grünen-Parlamentarierin Mihalic zwei Punkte unter den Tisch fallen. Erstens: Bisher haben die Grünen sich in der Ampel-Koalition bekanntlich nicht sonderlich hervorgetan, die Abschiebemisere zu beheben. Zum zweiten scheint die Bundestagsabgeordnete vergessen zu haben, wer im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen für das Thema Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer zuständig ist: die Parteifreundin Josefine Paul.
Anders als in anderen Bundesländern, in denen Abschiebungen tatsächlich Sache des Innenressorts sind, lenkt an Rhein und Ruhr die grüne Integrations- und Flüchtlingsministerin die zuständige Abteilung. Verantwortlich für das Rückkehrmanagement von Geflüchteten ist eine Ministerialdirigentin, die nach FOCUS-online-Recherchen schon unter SPD-Innenminister Ralf Jäger als Gruppenleiterin für diese Aufgabe fungierte. Unter Reuls Vorgänger Jäger war die Flüchtlingsabteilung neben anderen Stellen an der gescheiterten Überstellung des tunesischen Attentäters Anis Amri in Abschiebehaft beteiligt. Der Dschihadist der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) war im Dezember 2016 mit einem gekaperten Lkw auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gerast und hatte dabei elf Menschen getötet.
Knapp sieben Jahre später tötete erneut ein abgelehnter Asylbewerber mutmaßlich im Namen des IS „Ungläubige“. Dieses Mal drei Besucher eines Stadtfests in Solingen mit einem Messer , acht weitere Menschen überlebten teils schwerverletzt. Wieder hätte der Täter abgeschoben werden müssen, wieder scheiterte das Vorhaben am kranken Asylsystem.
Fehlerkette aus bürokratischen Vorschriften, überzogenem Datenschutz und persönlichem Fehlverhaltens
Am Donnerstag versuchte sich Flüchtlingsministerin Paul während einer Sondersitzung im Düsseldorfer Landtag an einer chronologischen Schilderung des Abschiebeversagens im Fall des mutmaßlichen Dreifachmörders. Es wurde deutlich, dass eine Fehlerkette aus bürokratischen Vorschriften, überzogenem Datenschutz, persönlichem Fehlverhaltens, einem Kompetenzenwirrwarr sowie einem praxisuntauglichen Dublin-Überstellungssystem in die Katastrophe führte.
Ende Dezember 2022 war al Hasan über die Balkanroute und Österreich nach Deutschland eingereist. Den Ausländerbehörden erzählte der Neuankömmling, dass hier ein Onkel von ihm leben würde. Eine Lüge. Das Asyl-Fingerprintsystem Eurodac machte deutlich, dass al Hasan bereits in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hatte. Also sollte er gemäß Dublin-Pakt nach Bulgarien zurückgeschickt werden.
Sofia signalisierte am 20. Februar 2023 Zustimmung. Allerdings, so machte Ministerin Paul klar, funktioniere das Dublin-System nicht. Die meisten EU-Länder stellten für eine Rückführung ihre eigenen Regeln auf. „Etliche EU-Staaten weigern sich meist die Migranten wieder zurückzunehmen“, erklärte Paul. So etwa Ungarn, Griechenland oder Italien.
Bulgarien hat für Rückführungen irregulärer Zuwanderer einen sehr engen Leistungskatalog aufgestellt: Keine Landtransporte oder Charterflüge. Nur mit drei Linien-Airlines sind Dublin-Abschiebungen möglich: „Und zwar von montags bis donnerstags zwischen neun und 14 Uhr, und nur nach Sofia“, berichtete die Ministerin. In jeder Maschine dürfen höchstens zwei Personen sitzen: „Das heißt, bundesweit können täglich nur zehn Flüchtlinge nach Bulgarien abgeschoben werden.“
Für den Islamisten al Hasan, der zunächst seit dem Februar 2023 in der Notunterkunft der ehemaligen Dempsey-Kaserne in Paderborn lebte, arrangierte die zentrale Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld für den fünften Juni einen Flug nach Sofia. Bei der ZAB koordiniert man auch die Abschiebungen per Flugzeug. Die Behörde untersteht dem Land, sprich der Ministerin Paul. Kurz vor dem Ablauf der Sechs-Monats-Frist sollte al Hasan abgeschoben werden.
Am 5.Juni gegen 2.30 Uhr klopften die Mitarbeiter der Ausländerbehörde erfolglos an der Tür des Syrers. Der Mann schien verschwunden. Nichts regte sich. Wie so oft in anderen Fällen war auch al Hasan rechtzeitig abgetaucht. Dabei war er noch beim Mittagessen laut Anwesenheits-System „DIAS“ gesehen worden. Am Morgen um 7.20 Uhr hob der Flieger ohne den Gesuchten von Düsseldorf nach Sofia ab.
Anlasslose Kontrollen in Flüchtlingszimmern waren noch verboten
Weitere Nachforschungen beim Wachschutz oder der Heimleitung nach dem verschwundenen Syrer sind nicht dokumentiert. Auch waren seinerzeit anlasslose Kontrollen in Flüchtlingszimmern noch verboten. Tags darauf tauchte al Hasan gegen Mittag wieder auf. Ministerin Paul hatte zunächst öffentlich moniert, dass die Heimleitung dies hätte melden müssen. Umgehend erntete die Grünen-Politikerin Widerspruch.
Die Bezirksregierung Detmold, zuständig für die Notunterkunft, erklärte: „Der jetzt Tatverdächtige hat sich während seiner gesamten Unterbringungszeit regelmäßig in der Unterkunft aufgehalten, das gilt auch für den Tag der gescheiterten Abschiebung“, sagte ein Behördensprecher FOCUS online. „Er war während seines Aufenthaltes nicht länger abwesend. Die Bewohner sind gehalten, sich beim Betreten und Verlassen der Flüchtlingsunterkunft in einem Buchungssystem „DIAS“ an- und abzumelden. Dieses Buchungssystem wird auch bei der Essensausgabe eingesetzt.“
Die Plattform zeige darüber hinaus allerdings keine An- und Abwesenheiten in einzelnen Bereichen der Unterkunft an – „insbesondere nicht bei der An- oder Abwesenheit der Bewohner auf den Zimmern. Zum Abschiebezeitpunkt war der Tatverdächtige nicht ausgebucht. Eine Meldung als wieder anwesend ist deshalb nicht erfolgt.“
Auf Drängen der Grünen sollen Abschiebehäftlinge künftig einen Anwalt bekommen
Vorsorglich hatte al Hasan bereits Monate zuvor eine Anwältin aus Dresden engagiert. Auf Staatskosten klagte die Asylspezialistin gegen die Abschiebung nach Bulgarien beim Verwaltungsgericht Minden. Einer der üblichen juristischen Schachzüge, um das Ausländerrecht auszuhebeln. Die Anwältin, die auf eine Anfrage von FOCUS online nicht antworten wollte, darf auf einen warmen Geldregen hoffen. Auf Drängen der Grünen sollen Abschiebehäftlinge künftig einen Anwalt bekommen, den die Staatskasse bezahlt. Ein weiterer Hinderungsgrund für Abschiebungen ist damit gesetzt.
Nach dem Abschiebe-Versagen im Fall al Hasan suchte die Landesausländerbehörde weitere Abschiebeflüge. Doch alle lagen hinter dem Fristende für Bulgarien. Im August 2023 geriet der Syrer zur Angelegenheit der deutschen Behörden. Das Thema Rückführung hatte sich erledigt. Im Dezember erhielt er den subsidiären Schutzstatus. Acht Monate später schlug er zu.
Ministerin Paul ließ am Donnerstag viele Fragen offen. Immer wieder zeigte sie mit dem Finger nach Berlin zur Ampel. Der Bund müsse das Abschiebeproblem in seiner Hand bündeln und lösen, so ihr Tenor.
„Frau Paul kümmert sich lieber um Genderfragen als um das leidige Thema Abschiebung“
Fragt sich nur, warum die Ministerin erst jetzt nach dem Anschlag in Solingen die Versäumnisse erkennt? Parlamentarier aus der schwarz-grünen Landtagskoalition bieten hinter vorgehaltener Hand eine Erklärung an: „Frau Paul kümmert sich lieber um Genderfragen als um das leidige Thema Abschiebung.“ Ein anderer Abgeordneter befindet: „Sie ist die schlechteste Ministerin im Kabinett.“ Weder bekomme ihr Ministerium die Flüchtlingswelle in den überforderten Kommunen in den Griff, noch das Kita-Finanzmanagement.
„Zwei Jahre lang hat sich das Grünen-Ministerium dagegen gewehrt, die zentralen Ausländerbehörden finanziell besser auszustatten“ erklärt der innenpolitische FDP-Sprecher im Landtag, Marc Lürbke. „Und jetzt kommt Frau Paul mit der Nachricht um die Ecke, dass die Landesregierung nun fünf Millionen ausgeben will. Das ist viel zu spät.“
Jahrelang hat man in Bund und NRW gerne die Augen vor den Problemen verschlossen. Da passt es ins Bild, dass Flüchtlingsministerin Paul nach dem Anschlag offenbar zunächst gar nicht erreichbar war. Wie FOCUS online aus Düsseldorfer Politikreisen erfuhr, versuchte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Sonntagvormittag erfolglos, seine Amtskollegin in dem Fall zu kontaktieren. Zu der Zeit hielt sich die Grünen-Politikerin den Angaben zufolge noch in Frankreich auf, wo sie an einer Gedenkfeier zu Massakern der SS im Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte. Etwas später meldete sich ein Mitarbeiterin Pauls mit der Frage „Gibt es etwas Wichtiges?“ im Innenministerium. Erst am Sonntagnachmittag gelang es Reul, seine Kabinettskollegin zu erreichen.
Lisa-Kristin Kapteinat, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im NRW-Landtag findet es zudem befremdlich, dass „die Ministerin nach dem Anschlag bis heute nicht in Solingen war.“ Die Möglichkeiten des Landes, nach dem missglückten Abschiebeversuch tätig zu werden, seien nicht genutzt worden. Der Ministerin warf die Politikerin vor, „sich ihrer Verantwortung, die sie als für Abschiebungen zuständigen Ministerin trägt, nicht bewusst zu sein.“
Reflexartig habe Paul diese Verantwortung anderen zugeschoben: „Der desaströse Auftritt der Ministerin hat mich schockiert und macht klar: Im weiteren Verlauf des parlamentarischen Verfahrens ist jede Form der Aufklärung angebracht.“
Inzwischen hat die Regierungskoalition aus CDU und Grünen einen Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen, um die Fehler beim Abschiebedesaster des Solinger Attentäters aufzuklären.