Messer-Terror in NRW - Top-Profiler über Syrer von Solingen: „Ein Detail macht mich an dem Fall stutzig“
Drei Menschen sind tot, mehrere zum Teil schwer verletzt. Jetzt rätselt Deutschland über die Hintergründe und das Motiv des tatverdächtigen Syrers von Solingen. Der deutsche Top-Profiler Axel Petermann erklärt, warum die Tat auf ihn unstrukturiert wirkt - und warum ihn ein Aspekt stutzig macht.
Bei einer Attacke auf der 650-Jahr-Feier der Stadt Solingen hat es drei Tote und mehrere Verletzte gegeben. Die Terrormiliz Islamischer Staat reklamierte die Tat für sich. In der Nacht auf Sonntag stellte sich der mutmaßliche Täter der Polizei.
Axel Petermann ist ein deutscher Kriminalist und Fallanalytiker. Im Gespräch mit FOCUS online erklärt er, warum er davon ausgeht, dass der tatverdächtige Syrer als Einzeltäter gehandelt hat; und wie es passieren konnte, dass er für 26 Stunden einfach von der Bildfläche verschwand.
FOCUS online: Wie blicken Sie auf den mutmaßlichen Täter und seine Motivation?
Axel Petermann: Es handelt sich offenbar um einen 26-jährigen Syrer, der seit eineinhalb Jahren in Deutschland lebt. Die große Frage im Moment lautet: Hat er sich zu dieser Tat in gewisser Weise hinreißen lassen, da es für ihn hier als abgelehnter Asylbewerber keine Perspektiven mehr zu geben schien, oder ist sie wirklich Ausdruck einer islamistischen Überzeugung?
Der IS hat den Anschlag zwar für sich reklamiert und der Täter soll bei der Tat „Allahu Akbar“ gerufen haben. Allerdings sagt das noch nichts über die wirklich tiefere Motivlage aus. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Tat, so schrecklich es klingen mag, ein Ausdruck von Frust oder die Suche nach Aufmerksamkeit war.
Im Moment wissen wir einfach noch zu wenig darüber, ob und wenn ja wie sich der Täter radikalisiert hat. Das muss jetzt eruiert werden.
Profiler: „Im Fall des Syrers in Solingen macht mich ein Detail stutzig“
Ist es üblich, dass Verdächtige denen zunächst die Flucht gelingt, so nah am Tatort gefasst werden? In 26 Stunden kann ein Täter weite Strecken zurücklegen.
Petermann: Das stimmt. Allerdings hängt das davon ab, welche Mittel einem Täter zur Verfügung stehen. Entscheidend ist beispielsweise, ob er motorisiert ist oder ob er Unterstützer hat, die ihm bei der Flucht behilflich sind oder ihm Unterschlupf gewähren.
Im Fall des Syrers in Solingen macht mich ein Detail stutzig: Der Täter trug bei seiner Verhaftung noch immer die blutverschmierte Kleidung – eigentlich das erste, dessen man sich nach einer solchen Tat entledigt, um nicht erkannt zu werden und, um Spuren zu vernichten, um eine Tatbeteiligung zu verschleiern.
Er hatte also offenbar keine Möglichkeit, sich umzukleiden, zu säubern und zu waschen. Auch nicht in dem Asylheim, das er nach der Tat aufgesucht, es dann aber rasch wieder verlassen haben soll. Er wusste also nicht wohin.
All das deutet für mich darauf hin, dass er als Einzeltäter agiert hat. Das mache ich auch daran fest, dass er offenbar keine Vorbereitungen für die Zeit nach der Tat getroffen hat. Sein Verhalten wirkt auf mich unorganisiert.
„Die Tat wirkt auf mich unstrukturiert“
Wie kann es dann sein, dass der mutmaßliche Täter 26 Stunden lang unbemerkt in Solingen bleiben konnte?
Petermann: Zum einen muss man die Wetterverhältnisse bedenken. Es hat in diesem Zeitraum offenbar geregnet. Das könnte die Suche mit Mantrailer-Hunden erschwert haben – es gibt da unterschiedliche Einschätzungen bei den Hundetrainern. Aber es ist ein Ansatz, den man durchführen muss, er garantiert aber längst nicht, dass die gesuchte Person wirklich gefunden wird.
Die Ermittler sind zudem angewiesen auf Hinweise aus der Bevölkerung; und letztendlich hängt der Erfolg einer Suche auch von der Polizei selbst ab. Ich weiß nicht, in welcher Form in Solingen gesucht wurde und warum der Täter nicht aufgefunden wurde, sondern sich am Ende selbst gestellt hat. Möglicherweise hat die Polizei andere Prioritäten gesetzt und in anderen Bereichen gesucht. Das ist kein Vorwurf an die Ermittler, sondern nur eines von mehreren möglichen Szenarien.
Wie FOCUS online aus Sicherheitskreisen erfuhr, ist der Verdächtige zunächst in seine Flüchtlingsunterkunft in der Solinger Innenstadt gelaufen. Dort soll er sich aber nicht lange aufgehalten haben. Er verschwand wieder in die Dunkelheit. Welche Szenarien für die Zeit danach sehen Sie?
Petermann: Das hängt davon ab, wie planvoll der Täter vorgegangen ist und wie intensiv er sich vorab mit der Zeit nach den Morden auseinandergesetzt hat. Prinzipiell gilt: Je unvorbereiteter eine Tat begangen wird, desto unstrukturierter ist auch die Zeit danach.
Im Solinger Fall gehe ich nicht davon aus, dass sich der Täter im Vorfeld intensiv darüber informiert hat, wohin er nach der Tat gehen kann. Sie wirkt auf mich, wie gesagt, unstrukturiert, obwohl er natürlich die Opfer sehr gezielt mit Stichen oder Schnitten in ihren Hälsen tötete beziehungsweise lebensgefährlich verletzte. Er wollte töten, das war seine Absicht.
Ich halte es daher für denkbar, dass sich der Täter einfach über einen längeren Zeitraum, zum Beispiel in irgendeinem Hinterhof verkrochen und versteckt hat.
„Ich hatte befürchtet, dass er eine Art 'Finale' setzt und weitere Menschen tötet“
War damit zu rechnen, dass der Täter nach der sehr öffentlichkeitswirksamen ersten Attacke ein weiteres Mal zuschlägt?
Petermann: Genau das hatte ich eigentlich befürchtet. Er hätte wohl die Möglichkeit gehabt, eine Art „Finale“ setzen und weitere Menschen töten zu können. Allerdings hängt ein solches Vorgehen immer vom primären Motiv des Täters ab – und der Frage, wie routiniert er ist. Auch hier ist wieder entscheidend: War die Tat tatsächlich von einer bestimmten radikalen Ideologie motiviert?
Wir kennen das beispielsweise von den so genannten „School Shooters“, deren Ziel es ist, möglichst viele Menschen zu töten und die sich dann häufig nach ihren Taten öffentlichkeitswirksam durch Kopfschuss selbst richten, um im Nachhinein eine Art „negativen Ruhm“ zu bekommen.
Das ist in Solingen nicht passiert. Und genau das lässt mich daran zweifeln, dass wir es wirklich mit einem Täter zu tun haben, der allein aus einer radikalen Ideologie heraus gehandelt hat.
„Er hat nach dem Motto kalkuliert: Ich habe meine Mission erfüllt, mein altes Leben ist vorbei“
IS-Täter agieren eigentlich in einer Märtyrer-Logik. Wollte er gefasst werden oder wurde eher der Fahndungsdruck zu hoch und er musste aufgeben?
Petermann: Wenn er tatsächlich ein IS-Vertreter gewesen sein sollte, so hat er seine Mission mit der Tat erfüllt. Er hat getan, was von ihm verlangt wurde. Er hat eine Botschaft gesendet.
Daher könnte ich mir im Fall des Syrers von Solingen durchaus vorstellen, dass er gefasst werden wollte. Er schien für sich keine weiteren Perspektiven in seinem weiteren Leben mehr gesehen zu haben. Darauf deutet ja auch hin, dass er sich bei der Festnahme auffällig kooperativ verhalten haben soll.
Ich erinnere mich hier an einen Fall von Blutrache, in dem ich ermittelt habe. Ein Vater war überzeugt, dass seine Tochter von einem Klassenkameraden missbraucht worden war. Er erschoss damals den Klassenkameraden und seinen Vater, sozusagen, um das vermeintliche Unrecht in seinen Augen wieder gutzumachen und die Ehre der Familie wieder herzustellen. Der Täter stellte sich dann umgehend, für ihn war seine Pflicht als Familienvorstand erfüllt und er wusste, dass er keine Chance hatte, in sein altes Leben zurückzukehren – auch, wenn er die Anerkennung der Großfamilie genoß.
Natürlich ist dieser Fall ganz anders gelagert als der Anschlag von Solingen. Ich könnte mir aber bei dem jungen Syrer vorstellen, dass auch er so kalkuliert hat; nach dem Motto: Ich habe meine Mission erfüllt, mein altes Leben ist vorbei. Aber natürlich müssen wir wie gesagt abwarten, ob die Tat wirklich aus einer radikalislamistischen Motivation heraus begangen worden ist.
War nicht damit zu rechnen, dass der Islamist in einem letzten Kampf mit dem SEK den Tod sucht?
Petermann: Nicht unbedingt. Natürlich hätte der Täter auch ein anderes Szenario inszenieren können. Er hätte sich mit einem Messer auf die Polizisten stürzen und so für einen „Höhepunkt“ sorgen können, bei dem er den Märtyrertod durch Killing by Cops findet. Darauf hat er verzichtet.
Das mag vor dem Hintergrund früherer Anschläge verwundern. Doch prinzipiell gilt: Täter treffen Entscheidungen; und die sind immer individuell. Im Fall von Solingen hat sich der Syrer für das Messer entschieden, für den Zeitpunkt und den Ort des Festes und für die Opfer, die er gezielt in die Hälse gestochen hat. Und er hat sich schließlich auch dafür entschieden, den „heroischen Abgang“ zu vermeiden. Daher hat er sich der Polizei gestellt.