Michael Groß im FOCUS-Interview - Olympia-Legende schlägt Alarm: Kinder können keinen Hampelmann und Purzelbaum mehr
Michael Groß weiß, wie man Medaillen bei Olympia gewinnt. Der „Albatros“ holte in seiner Schwimmer-Karriere sechs Mal Edelmetall für Deutschland, darunter dreimal Gold. Nun blickt er mit Ernüchterung auf den Medaillenspiegel und sucht im FOCUS-Interview nach Gründen für die überschaubare Ausbeute in Paris.
Der mehrfache Schwimm-Olympiasieger Michael Groß beklagt die maue Medaillenausbeute der deutschen Mannschaft in Paris. Der 60-Jährige mit dem Spitznamen „Albatros“ gewann 1984 in Los Angeles zweimal Gold und zweimal Silber. Zwei Jahre später kamen in Seoul eine Gold- und Bronze-Medaille hinzu.
FOCUS: Herr Groß, Sie haben bei Olympia 1984 und 1988 sechs Medaillen gewonnen, drei davon in Gold. Wie viel des aktuellen Events in Paris schauen Sie sich noch an?
Michael Groß: Ziemlich viel. Auch im Büro lassen wir die Wettbewerbe häufig neben Konferenzen laufen.
Nur die Schwimmwettkämpfe?
Groß: Nee, nee. Das spannende sind ja gerade Sportarten, die man sonst nicht so auf dem Radar hat und die nun – zurecht – eine große Aufmerksamkeit genießen können: Bogenschießen, Wildwasser, Triathlon etwa. Und Kulissen wie Paris hat man auch als Spitzensportler selten.
Sport ohne Wettkampf? „Ein großer Fehler“
1992 gewann die erste gesamtdeutsche Olympia-Equipe noch 82 Medaillen. Seither gehen die Zahlen rapide zurück. Woran hapert’s?
Groß: In Paris läuft der Wettbewerb ja noch. Aber generell kann ich nur hoffen, dass dieser Trend deutlich umgekehrt wird. Wir sind das bevölkerungsreichste Land Europas, haben in vielen Sportarten große Traditionen und auch Potenzial. Die Frage ist, ob wir das alles mobilisieren wollen und können – oder nicht, wie derzeit. Zugleich ist der Innovations-Wettbewerb im Sport groß.
Haben Sie ein Beispiel?
Groß: Beim Schwimmen kann ich’s ja beurteilen: Bei Starts, Wenden und Tauchphasen haben Athleten wie der Franzose Léon Marchand gerade gezeigt, was technisch der neue Goldstandard ist. Um da mitzuhalten, ist in Deutschland noch viel zu tun, schon im Jugendbereich.
In Deutschland begann die Debatte um vermeintlich zu viel Leistungsdruck mit den Bundesjugendspielen, wo der Wettbewerb dann quasi abgeschafft wurde.
Groß: Und das ist ein großer Fehler. Kinder lernen in diesem Alter über den Sport spielerisch wichtige Erfahrungen für das ganze Leben: Gewinnen, Verlieren und Enttäuschungen verarbeiten, Respekt für Gegner und Fairness im Wettbewerb.
Was wir von den Holländern lernen können
Welche Rolle spielten Medaillen für Sie?
Groß: Die entscheidende. Sie waren Motivation, Ziel und Krönung zugleich. Letztlich sind Medaillen der Maßstab, besonders bei Olympia. Auch heute noch. Fußballer geben sich ja nicht nur mit Ballbesitz zufrieden. Die wollen Tore schießen und gewinnen.
Was kann man vielleicht von anderen Ländern lernen in punkto Einstellung?
Groß: Die Niederlande etwa hatte Stand Mittwochfrüh ähnlich viele Medaillen errungen wie die Bundesrepublik, wo fast fünf Mal mehr Menschen leben. Sport und der dazu gehörende Wettbewerb werden dort von Kindesbeinen an gefördert. Und bei uns? Bei Grundschulbesuchen vor Olympia wurde mir berichtet, dass mittlerweile 40 bis 50 Prozent der Kinder in der zweiten Klasse nicht mehr schwimmen können und auch weder Hampelmann noch Purzelbaum schaffen. Und das sind nur drei grundlegende Koordinationsübungen. Dadurch wird die Basis schon rein statistisch im deutschen Leistungssport recht dünn.
Digitalisierung im Sport
Welche Rolle spielt Digitalisierung im Sport?
Groß: Ich will’s andersrum beantworten: Selbst für die Kleinen ist das Smartphone heute die Fernbedienung des Lebens. Umso wichtiger sind analoge Herausforderungen und Erfolgserlebnisse, die eigenen Einsatz erfordern. Die körperliche Koordination trainiert auch unseren Kopf, übrigens auch noch im Alter, wie bei mir jetzt mit 60.
Sie haben gesagt, dass trotz eigener Triumphe das Schwimmen nicht Ihr größtes Talent sei. Warum haben Sie’s trotzdem geschafft?
Groß: Talent steht vielleicht für ein Drittel des Erfolgs. Es macht am Anfang den Zugang zu einer Tätigkeit einfacher, bei mir die Wasserlage. Dann aber braucht es hartes Training und vor allem Willen. Bis ich richtig Delfin schwimmen konnte, dauerte es sieben Jahre. Talent, Training, Wille – auf diese Kombination kommt es letztlich das ganze Leben lang an.
Wenn Sie Ihre eigene aktive Zeit vergleichen mit den jungen Sportlern heute – brennt in denen noch ausreichend Feuer?
Groß: Wichtiger Aspekt! Wenn einmal der Funke gezündet ist, kann eine leuchtende Flamme entstehen. Das passiert sehr früh und hat ganz stark mit der Gemeinschaft zu tun, den Fahrten zu Wettkämpfen, den Partys. Darum bin ich geschwommen. Und mit dem richtigen Trainer war ich plötzlich in meinem Jahrgang unter den Top 3 in Deutschland. Und dann bekam ich Lust auf mehr.