Militärexperte Ralph D. Thiele im Interview - „Das F-16-Dilemma der Ukraine ist größer, als man auf den ersten Blick sieht“
Die Ukraine steht vor einem Dilemma: Zu wenig F-16-Kampfjets, veraltete Maschinen und lange technische Vorbereitungen. Der Tod eines Piloten verschärft die Situation. FOCUS online sprach mit dem Militärexperten Ralph Thiele über die aktuelle Lage.
Nach dem ersten Verlust eines gelieferten Kampfjets in der Ukraine wird weiter nach der Ursache für dessen Absturz gesucht. Verschiedene Theorien kursieren, doch Klarheit gibt es bisher nicht.
Wichtig gestaltet sich auch die Frage: Wie effektiv sind die F-16-Kampfjets für die ukrainischen Verteidigungsanstrengungen? Auch bleibt die von Präsident Wolodymyr Selenskyj angekündigte F-16-Vergeltung nach den verheerenden russischen Luftangriffen aus.
Militärexperte Ralph Thiele erklärt im Interview mit FOCUS online, welche Theorie zum Absturz die plausibelste ist und welche Wirkung die F-16 für die Ukraine tatsächlich entfalten können. Denn klar ist laut dem Oberst a. D. : Es mangelt bislang nicht nur an ausgebildeten Piloten.
FOCUS online: Herr Thiele, bereits vor einer Woche hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach massiven Luftschlägen Russlands mit Vergeltung durch F-16-Kampfjets gedroht. Wie läuft das bisher für die Ukrainer?
Ralph Thiele: Es läuft leider nicht wie erwartet. Die Ausstattung der Ukraine mit F-16-Kampfjets ist ein langwieriges Unterfangen. Nicht nur, dass die insgesamt fast 100 Maschinen, die versprochen wurden, Jahre brauchen, um dort anzukommen, sie müssen auch technisch vorbereitet werden – und das bis ins kleinste Detail.
F-16: „Sechs Piloten hatten Ausbildung abgeschlossen, einer ist ums Leben gekommen“
Die F-16-Vergeltung wird also noch lange auf sich warten lassen?
Thiele: Kürzlich haben amerikanische Einheiten die elektronischen Kampfführungsfähigkeiten der in die Ukraine gelieferten ersten F-16 auf den neuesten Stand der Technik aktualisiert. Es sind viele kleine Dinge zu tun, die spezielle Kompetenzen erfordern. Nicht jeder Pilot, der gerade das Fliegen dieser Jets gelernt hat, kann mit den Feinheiten der Kriegsführung umgehen.
Dafür braucht man langjährige Erfahrung und Übung. Aktuell, nach meinem Kenntnisstand, hatten sechs ukrainische Piloten diese Ausbildung abgeschlossen. Jetzt ist einer davon beim ersten Einsatz ums Leben gekommen. Das reduziert die Zahl auf fünf, und weitere Piloten müssen erst noch nachkommen.
Fünf F-16-Piloten, das klingt nach viel zu wenigen.
Thiele: Pro Flugzeug benötigt man mehr als einen Piloten, weil diese rotierend eingesetzt werden sollen. Solche Maschinen gehen oft mehrmals am Tag in den Einsatz, und dabei wechselt man auch die Besatzung.
Personalmangel ist also die eine Sache. Welche Herausforderungen gibt es bei der technischen und logistischen Vorbereitung der F-16?
Thiele: Es wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis die F-16-Kampfjets in der Ukraine voll einsatzfähig sind. Die technische Vorbereitung und die Ausbildung der Piloten und Bodenmannschaften sind langwierige Prozesse, die Monate, wenn nicht Jahre dauern können.
Zudem müssen die logistischen und infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Jets effektiv zu unterstützen und zu warten. Das alles zusammen bedeutet, dass die Ukraine noch eine beträchtliche Wegstrecke vor sich hat, bevor die F-16-Kampfjets eine entscheidende Rolle im Konflikt spielen können.
„Verlust eines F-16-Jets und vor allem eines Piloten ist gravierend“
Sie haben den Tod eines Piloten angesprochen. Was bedeutet der Verlust eines F-16-Jets und eines Piloten für die ukrainische Kriegsführung?
Thiele: Der Verlust eines F-16-Jets und vor allem eines Piloten ist gravierend. Wobei Piloten wesentlich teurer und schwieriger zu ersetzen sind als die Flugzeuge selbst, da sie eine lange und intensive Ausbildung durchlaufen müssen. Ein solcher Verlust hat nicht nur immaterielle, sondern auch erhebliche fachliche Konsequenzen. Der Fall zeigt, dass wir oft die Komplexität der Kriegsführung unterschätzen.
Inwiefern?
Thiele: Wir haben das bereits bei den Leopard-Panzern gesehen, wo die Bedeutung von Logistik und Munition zunächst unterschätzt wurde. Ähnlich ist es bei den Flugzeugen. Ein Geschwader kann bis zu 2000 Menschen benötigen, um 50 Piloten zu unterstützen. Die Technik, der Schutz und die Verlagerung dieser Einheiten sind extrem anspruchsvoll und müssen stets funktionieren.
Zudem spielt sich der Luftkrieg in einem stark segmentierten Luftraum ab, was es schwierig macht, Freund und Feind zu unterscheiden. Außerdem braucht es dafür eine umfangreiche Aufklärung aus dem Weltraum und von weitreichenden Systemen wie den AWACS Airborne Early Warning and Control System (Anm. d. Red.: zu Deutsch: Luftgestütztes Warn- und Kontrollsystem) .
Das sind keine Aufgaben, die durch die Lieferung weniger Flugzeuge gelöst werden können. Es handelt sich um hochkomplexe Vorgänge, die Jahre der Vorbereitung erfordern. Das jetzige Vorhaben mit den F-16 ist ein riesiges Wagnis, das erst in einigen Jahren den gewünschten Nutzen stiften könnte, wenn es erfolgreich ist.
Die Ukraine ist demnach noch nicht so weit, die – wenigen – F-16 gewinnbringend im Krieg gegen Russland einzusetzen?
Thiele: Sozusagen, ja. Die Jets können die Ukrainer jetzt für Husarenstücke benutzen. Das ist genau das, was bei diesem Piloten passiert ist. Er stürzt sich in die Luftschlacht, und wenn er Glück hat, erreicht er damit auch etwas. Aber normalerweise wird er abgeschossen – entweder vom Gegner oder im schlimmsten Fall sogar von einem Freund.
„Das kann passieren, weil der Luftraum nicht so aufgeräumt ist“
Zu dem Abschuss gibt es bereits zahlreiche Theorien. Welche scheint aus Ihrer Sicht am plausibelsten?
Thiele: Implizit ist für mich die Friendly-Fire-Theorie am wahrscheinlichsten. Der rabiate Eingriff Selenskyjs durch das Feuern des Luftwaffenchefs und die Tatsache, dass die Ukraine von Anfang an nicht gut auf diesen Krieg vorbereitet war, spielen hier eine Rolle. Das Land baut jetzt mitten im Krieg ihre Armee und Luftstreitkräfte um, um gegen einen übermächtigen Gegner bestehen zu können. Das ist eine unglaubliche Führungsarbeit, die da geleistet wird.
Bleiben wir kurz bei der Friendly-Fire-Theorie. Wie genau kann das passieren?
Thiele: Das kann passieren, weil der Luftraum nicht so aufgeräumt ist, wie wir das im Westen haben. Die Ukraine hat mittlerweile viel mehr Luftverteidigung als wir in Deutschland, was das Ganze enger und unübersichtlicher macht. Die Russen schießen natürlich zudem noch laufend hinein, was die Situation äußerst gefährlich macht. Heißt: Wenn die Luftraumordnung nicht steht, kommt es immer wieder zu Friendly Fire. Das passiert selbst Amerikanern bei kombinierten Einsätzen, trotz ihrer Hightech-Ausrüstung.
Es ist nun auch nicht das erste Mal, dass Selenskyj jemanden aus der Führungsebene des Militärs abgesägt hat. Ein Problem?
Thiele: Richtig, er hat bereits den Generalstabschef entlassen und jetzt eben auch den Luftwaffenchef. Wenn man die Architekten des militärischen Aufbaus entfernt, wird es nicht unbedingt besser. Es sei denn, der Architekt hat seine Arbeit schlecht gemacht, was hier wohl nicht der Fall war. Für mich sieht das nach einer Art Anschuldigung Selenskyjs aus, dass der Luftwaffenchef seine Arbeit nicht ordentlich gemacht hat. Das ist implizit eine Selbstbeschuldigung, weil es zeigt, dass sie ihren besten Piloten verloren haben.
„Das F-16-Dilemma ist größer, als man auf den ersten Blick sieht“
Nun hat der Westen bisher nicht viele F-16-Kampfjets geliefert. Befindet sich die Ukraine hier in einem F-16-Dilemma: zu wenige Maschinen, zu wenige Piloten, zu hohe Ambitionen?
Thiele: Ja, das F-16-Dilemma ist größer, als man auf den ersten Blick sieht. Es sind vielleicht 12 Maschinen da, aber diese sind nicht auf dem neuesten Stand und müssen mühsam aktualisiert werden. In Europa gibt es Lizenzvertragsnehmer wie die Holländer oder Dänen, die in Einzelfertigung an der Wartung und laufenden Nachrüstung dieser Maschinen arbeiten – die Fertigungsstätten sind eher eine Garage als eine große Fabrik.
Sie können nicht plötzlich 100 Flugzeuge fit machen, nachdem sie bisher nur an Einzelnen gearbeitet haben. Zudem haben die Dänen und Holländer nicht die modernsten F-16-Modelle, was weitere Herausforderungen bei Munition, Bewaffnung und elektronischer Kampfführung mit sich bringt.
Zum Beispiel?
Thiele: Es gibt spezialisierte Teams weltweit, die ihr Können in die Vorbereitung dieser Jets einbringen müssen. Der Ukraine-Konflikt ist zudem ein Referenzkriegsschauplatz für alle Waffenhersteller und Armeen weltweit. Dadurch wird auch experimentiert, wie gut aktuelle Systeme funktionieren, was daraus gelernt und was daran verbessert werden kann. All diese Aspekte in die Maschinen zu integrieren, ist sehr anspruchsvoll und fordert die hochmotivierten ukrainischen Piloten möglicherweise sogar übermäßig.
„Russland kann zeitlich und räumlich begrenzt in der Luft machen, was es will“
Welchen Nutzen können die F-16 jetzt schon haben? Muss Putin sich überhaupt vor den Jets fürchten?
Thiele: Putin muss jedes Waffensystem ernst nehmen, einschließlich der F-16. Wir hören, dass er seine Nuklearstrategie überarbeiten will, was zeigt, wie ernst er weitreichende Flugzeug- und Raketenangriffe nimmt. Die F-16 ist ein in verschiedenen Einsatzrollen bewährtes Kampfflugzeug, das die Russen kennen und auf das sie sich vorbereitet haben.
Betrachtet man jedoch die Gesamtzahl der russischen Militärflugzeuge – über 1000! – und die aktuelle Situation in der Ukraine, hat Russland zwar nicht die absolute Luftherrschaft, aber eben eine Luftüberlegenheit. Das bedeutet, dass Russland zeitlich und räumlich begrenzt in der Luft machen kann, was es will.
Die F-16 kann der Ukraine jedoch dabei helfen, schmerzhafte Nadelstiche zu setzen und möglicherweise die Luftverteidigung zu verbessern, aber sie wird Russland nicht entscheidend schwächen.
Was bedeutet das jetzt konkret für die ukrainische Kriegsführung?
Thiele: Russland wird versuchen, die ukrainischen Flugplätze – gegebenenfalls auch Behelfsflugplätze auf Autobahnen – zu bekämpfen, um den Einsatz der F-16 zu verhindern. Für die Ukraine ist es technisch und logistisch sehr schwierig, die F-16 in der Ukraine startklar zu halten und zu betreiben.
Praktisch können die F-16 bei der Luftverteidigung, insbesondere der Bekämpfung von Raketen, helfen; Drohnenabwehr ist schwieriger, aber möglich. Auch der Einsatz von Gleitbomben und Raketen größerer Reichweiten aus der Luft wäre hilfreich, um überraschend russische Truppen oder wichtige Einrichtungen zu treffen.