Milliardenverluste und marode Schienen - Bahn-Experte packt aus: So rutschte die Deutsche Bahn in die Krise
Die Deutsche Bahn befindet sich in einer tiefen Krise. Milliardenverluste, marode Infrastruktur und sinkende Pünktlichkeit sind die Folge jahrzehntelanger Fehlentscheidungen. Bahn-Experte Christian Böttger erklärt, wie es dazu kommen konnte.
Die Bahnreform von 1994
Die heutige Marktstruktur der Eisenbahn in Deutschland entstand im Wesentlichen durch die Bahnreform 1994. Durch diese Reform wurden die Deutsche Bundesbahn und die Reichsbahn der DDR fusioniert, in eine privatwirtschaftliche Rechtsform umgewandelt und zugleich entschuldet. Die Marktordnung in Deutschland wurde entlang einer Reihe neuer EU – Richtlinien fundamental reformiert.
Öffnung des Schienennetzes
Kern der EU-Reform war die Öffnung des Schienennetzes. Während zuvor die staatlichen Eisenbahnen Eigentümer der Infrastruktur waren und als Monopolisten den Zugverkehr betrieben, erhielten mit der Reform auch andere Betreiber die Möglichkeit, das Netz mit eigenen Zügen zu nutzen.
Für die Nutzung der Infrastruktur durfte der Eigentümer Benutzungsentgelte, insbesondere Trassenpreise für die Nutzung des Schienennetzes, erheben. Der Zugang zur Infrastruktur und die Preisbildung waren diskriminierungsfrei zu gestalten, eine Bevorzugung der Staatsbahnen wurde untersagt. Des weiteren verlangt die EU seither eine getrennte Rechnungsführung für die Infrastrukturgesellschaften, um zu verhindern, dass die Gewinne der Infrastruktur in andere Geschäfte der Staatsbahnen fliessen.
Umstrukturierung der Deutschen Bahn
In Deutschland wurde der Eisenbahnbetrieb in eine Holding mit fünf großen Aktiengesellschaften als Tochterfirmen überführt. Neben den beiden Infrastrukturgesellschaften DB Netz AG und DB Station AG (Personenbahnhöfe) entstand je eine Gesellschaft für den Fernverkehr, den Nahverkehr und den Güterverkehr.
Als „Dritte Stufe“ der Reform war angedacht, in späteren Jahren die Holding aufzulösen und die Transportgesellschaften zu privatisieren. Für die Infrastrukturgesellschaften wurde im Grundgesetz verankert, dass diese mehrheitlich im Eigentum des Staates bleiben sollen.
Finanzierung der Infrastruktur
Infrastruktursparten sollten sich durch die Nutzungsentgelte finanzieren. Für neue Bahnstrecken, die sich wirtschaftlich nicht rechneten, wollte der Bund Zuschüsse zahlen. Bei der Reform wurde angenommen, dass der Fernverkehr und der Güterverkehr unter diesen Marktbedingungen ohne weitere Zuschüsse im Markt agieren könnten.
Für den Regionalverkehr wurde ein komplett neues Marktmodell geschaffen, da diese Verkehre – nirgendwo auf der Welt – eigenwirtschaftlich erbracht werden können. Mit der Reform wurde die Verantwortung für den Regionalverkehr vom Bund auf die Bundesländer übertragen. Der Bund stellt den Ländern seither Geld zur Verfügung, mit dem die Länder Verkehrsleistungen bestellen können. Die Mittel sind grundgesetzlich garantiert und inflationsindiziert.
Anfangs bestellten die Länder die gesamte Verkehrsleistung bei der DB AG. Über die Jahre bauten sie Bestellorganisationen auf, als „Aufgabenträger“ bezeichnet und schrieben Verkehrsleistungen im Wettbewerb aus. Inzwischen erbringen Wettbewerber etwa 40 Prozent der Verkehre im Regionalverkehr.
Im Güterverkehr funktioniert der Wettbewerb, inzwischen erbringen Wettbewerber der DB Cargo 60 Prozent der Verkehrsleistung. Im Fernverkehr hingegen hat die DB AG immer noch einen Marktanteil von über 99 Prozent.
Strategiewandel in der Ära Mehdorn
Mit der Berufung von H. Mehdorn zum Vorstandsvorsitzenden 1999 änderte sich die strategische Ausrichtung der DB AG. Mehdorn strebte den Aufbau eines „integrierten Logistikkonzerns“ an und wollte das Unternehmen an die Börse bringen, die Pläne für die dritte Stufe der Bahnreform gerieten in Vergessenheit. Der Bund als Eigentümer hat die geänderte Strategie nie formal beschlossen, in allen Fraktionen des Bundes gab es erheblichen Widerstand.
Trotzdem trieb der Bahnvorstand die Umbaupläne mit Unterstützung eines Teils der Bundesregierung voran. Hierfür benötigte der Konzern vor allem zusätzliche Geldmittel. Die DB AG überzeugte den Bund, dass Neubauvorhaben vollständig vom Bund finanziert werden sollten. Außerdem übernahm der Bund die Finanzierung eines Teils der Ersatzinvestitionen. Hierfür wurde ab 2006 ein Betrag von 2,5 Mrd. Euro jährlich bereitgestellt, der aus dem Budget für Neu- und Ausbau umgewidmet wurde.
Das Neubaubudget hatte in den Jahren zuvor rund 4 Mrd. Euro jährlich betragen, ab 2005 sank dieser Betrag auf 1,5 Mrd. Euro jährlich ab und ist bis 2020 nicht mehr erhöht worden. Dadurch ist der Neubau von Strecken fast zum Erliegen gekommen, die zentralen Projekte zum Ausbau des Schienennetzes werden verschoben.
Das Unternehmen DB AG hingegen wurde durch die Umstellung finanziell entlastet und erhielt zusätzlichen Spielraum für die internationale Expansion. Weitere Mittel wurden durch den Verkauf von „Tafelsilber“ (zum Beispiel das Telefon- und Datennetz, Fährlinien, Eisenbahnreklame und Immobilien) und durch neue Schulden beschafft. Mit diesen zusätzlichen Mitteln wurde insbesondere der Aufbau eines internationalen Logistikgeschäftes und einer Sparte für internationalen Personenverkehr mit Bus und Bahn finanziert.
In den letzten Jahren investiert die DB AG darüber hinaus massiv in „Start-Ups“, vor allem im Mobilitätssektor. Inzwischen machen die Geschäfte, die nichts mit Eisenbahn in Mitteleuropa zu tun haben, fast die Hälfte des Konzernumsatzes aus. Der Börsengang scheiterte 2007, zuerst verzögert durch die großen politischen Widerstände und dann durch die aufziehende Finanzkrise. Die strategische Ausrichtung änderte sich aber nicht und wurde auch von Mehdorns Nachfolgern fortgeführt.
Fehlschläge und aktuelle Krise
Die Strategie der letzten 20 Jahre hat sich insgesamt als nicht erfolgreich erwiesen. Die Investitionen in die neuen Geschäftsfelder waren weitgehend Fehlschläge. Der Konzern war mit der Bahnreform entschuldet worden, inzwischen betragen die Schulden wieder über 30 Mrd. Euro. Seit etwa zehn Jahren sinken die Gewinne der DB AG stetig. Außerdem mussten in den Jahren 2015 und 2020 mehrere Auslandsbeteiligungen wertberichtigt werden, allein dadurch entstanden Verluste von rund 3 Mrd. Euro.
Auch das Kerngeschäft der Eisenbahn in Deutschland, dessen Gewinne die internationale Expansion jahrelang finanziert hatten, gerät wirtschaftlich immer tiefer in die Krise, 2023 wiesen alle Bahnsparten (mit Ausnahme von DB Energie) Verluste aus. Vor allem geht die betriebliche Stabilität zurück. Das Alter der Infrastruktur steigt stetig an, die Pünktlichkeit sinkt im sowohl Personen- als auch im Güterverkehr.