„Mismatch-Problem“ und „nutzloses Ritual“ - CDU plant das Bürgergeld-Aus – Experte erklärt, wo die Rechnung nicht aufgehen wird
Die CDU will aus dem Bürgergeld eine „neue Grundsicherung“ machen. Die Idee: Steuerzahler werden entlastet, die Wirtschaft kommt in Schwung, Bürger fühlen sich gerechter behandelt. Arbeitsmarktforscher Bernd Fitzenberger erklärt im Interview, warum das kaum gelingen wird.
Was genau die CDU plant, erfahren Sie im Video oben.
FOCUS online: Herr Fitzenberger, die CDU kritisiert, dass der Name Bürgergeld zu sehr an ein bedingungsloses Grundeinkommen erinnert, was negative Effekte auf die Empfänger haben kann. Ist da was dran?
Bernd Fitzenberger: Zunächst muss man festhalten: Das Bürgergeld ist kein bedingungsloses Grundeinkommen. Es gab zwar im Vergleich zu Hartz-IV Anpassungen mit der Bürgergeldreform, aber es gilt weiterhin, dass sobald man Erwerbseinkommen hat, der Bürgergeldanspruch sinkt. Wenn man als Bürgergeldempfänger als erwerbsfähig eingeschätzt wird, besteht die Mitwirkungspflicht, die Arbeitslosigkeit zu überwinden.
Also wäre eine Namensänderung vor allem Symbolpolitik?
Fitzenberger: Wenn das Bürgergeld als bedingungsloses Grundeinkommen missverstanden würde, dann wäre das tatsächlich ein Irrtum. Mir liegen aber keine empirischen Befunde vor, ob es tatsächlich so ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung oder die Mehrheit der Leistungsbeziehenden diesem Missverständnis erliegt.
„Praktisch keine Totalverweigerer in der Statistik“
An die Stelle des Bürgergelds soll eine „neue Grundsicherung“ treten. Insbesondere „Totalverweigerer“ sollen dann stärker sanktioniert werden. Wer absichtlich nicht mitwirkt, zumutbare Arbeit ablehnt oder unentschuldigt zu Terminen fehlt, soll künftig am Ende keine Leistungen mehr erhalten. Wie lässt sich überhaupt gesetzlich klar definieren, wer ein „Totalverweigerer“ ist?
Fitzenberger: In den ersten Monaten des Bürgergelds gab es weniger Sanktionen als in der Vergangenheit. Die Bundesregierung hat dann in diesem Jahr für „Totalverweigerer“ eine stärkere Sanktionierung – oder Leistungsminderung, wie es inzwischen heißt – beschlossen. Juristisch ist das aber ein schwer präzise und rechtssicher zu erfassender Begriff, man verwendet ihn für Menschen, die mehrfach Jobangebote ablehnen.
Laut CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann soll das eine sechsstellige Zahl von Menschen treffen. Ist das realistisch?
Fitzenberger: Mit dem Begriff, wie er in den Jobcentern verwendet wird, gibt es praktisch keine „Totalverweigerer“ in der Statistik. Es sind nur Einzelfälle, die mehrfach Jobangebote ablehnen. Das könnte auch daran liegen, dass eine rechtssichere Feststellung einer „Totalverweigerung“ eine hohe Hürde für Jobcentermitarbeitende darstellt. Aber in einer schwachen Wirtschaftslage wie derzeit ist es aber auch so, dass Bürgergeldbeziehenden nur selten ein Jobangebot gemacht wird.
„CDU müsste erst einmal rechtlich konforme Regelung finden“
Wie würde man dann auf eine sechsstellige Zahl kommen?
Fitzenberger: Herr Linnemann hat recht damit, dass Meldeversäumnisse oder die Nichtteilnahme an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ebenfalls Sanktionsgründe sind. Hier stellt sich die Frage, ob er darauf hinaus will, dass man diesen Menschen dann die vollen Leistungen streicht. Bisher werden Meldeversäumnisse auch sanktioniert, aber es werden eher kleinere Prozentsätze vom Bürgergeld abgezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat hier auch Verhältnismäßigkeit angemahnt, die rechtlichen Hürden für eine vollständige Leistungskürzung sind hoch. Die CDU müsste als erst einmal eine Regelung finden, die verfassungsrechtlich konform wäre.
Die CDU argumentiert, dass auch das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass wer Arbeit nicht annimmt, obwohl er arbeiten kann, nicht bedürftig ist.
Fitzenberger: Ich bin kein Jurist, aber meine Interpretation ist: Es gibt Spielräume für stärkere Sanktionierungen. Aber komplett den Regelsatz und die Erstattung der Unterkunftskosten zu streichen, erscheint nach meinem Verständnis durch das Verfassungsgerichtsurteil mit sehr hohen rechtlichen Hürden verbunden zu sein.
Monatlicher Pflichttermin beim Jobcenter ein „nutzloses Ritual“?
Helfen Sanktionen überhaupt, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen?
Fitzenberger: Ich würde sagen, dass Sanktionen notwendig sind. Aber sie sind nicht das Allheilmittel, um Menschen sofort in Beschäftigung zu bringen. Es klingt paradox, aber am besten sind die Sanktionen, die man nicht aussprechen muss – also wenn sie nur im Raum stehen, um sicherzustellen, dass die Leistungsberechtigten ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen.
Eine weitere Idee der CDU ist es, monatliche persönliche Gänge zum Jobcenter zur Pflicht machen. Hilft das tatsächlich, oder belastet das nur die Jobcenter?
Fitzenberger: Grundsätzlich ist eine Erhöhung dieser sogenannten Kontaktdichte sinnvoll. Dadurch bekommen die Menschen eine intensivere Betreuung und sind gezwungen, sich intensiver mit der Stellensuche auseinanderzusetzen. Gleichzeitig sind die Jobcenter seit 2022 durch die große Zahl an Geflüchteten, die sie ebenfalls betreuen müssen, stark belastet. Zudem gibt es hunderttausende Menschen, die in einer Maßnahme sind, oder eigentlich erwerbstätig, aber aufstocken müssen. Bei ihnen könnte so ein monatlicher Pflichttermin zu einem nutzlosen Ritual werden, weil keine neuen Dinge zu besprechen sind.
Wie könnte man das auflösen?
Fitzenberger: Den Jobcentern sollte die Freiheit gegeben werden, Termine so häufig anzusetzen, wie sie es auch wirklich für sinnvoll halten, um Wege in eine Beschäftigung zu finden und ja auch ein bisschen mehr Mitwirkung einzufordern. In den Fällen, in denen es nicht sinnvoll ist, kann man auch in größeren Abständen Termine ansetzen. Eine feste Frequenz ist schwierig, aber ich glaube, dass die Praktiker wissen, dass die sogenannten Jobcenter-Kunden sehr unterschiedlich sind.
„Mismatch-Problem“: Linnemann-Rechnung geht nicht auf
CDU-Generalsekretär Linnemann schreibt in einem Gastbeitrag für FOCUS online , dass 1,7 Millionen erwerbsfähige Bürgergeldempfänger einen Teil der 1,7 Millionen unbesetzten Stellen annehmen soll. Geht diese Rechnung auf?
Fitzenberger: Nach den neuesten Zahlen gab es im August rund 1,8 Millionen Arbeitslose, die erwerbsfähig und leistungsberechtigt sind. In dieser Gruppe gibt es aber eine große Dynamik. Ungefähr die Hälfte davon ist langzeitarbeitslos, aber die andere Hälfte ist zum Beispiel nur kurz arbeitslos oder kommt schnell in eine Maßnahme. Zudem gibt es Arbeitslose, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen der Betreuung von Kindern dem Arbeitsmarkt kurzfristig nicht zur Verfügung stehen.
Die tatsächliche Zahl derjenigen, die offene Stellen kurzfristig besetzen können, dürfte also deutlich kleiner sein als Linnemann annimmt. Allerdings ist auch die Zahl der offenen Stellen kleiner, nämlich durch die wirtschaftliche Stagnation lag sie im dritten Quartal 2024 nur noch bei rund 1,3 Millionen.
Passen denn alle erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger auf die offenen Stellen?
Fitzenberger: Nein, es gibt das sogenannte Mismatch-Problem, das man nicht einfach wegdiskutieren kann. Viele Leistungsempfänger haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, für viele Stellen gibt es aber hohe oder sehr spezielle Qualifikationsanforderungen, deshalb ist die Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung so wichtig. Auch sind die Arbeitslosen nicht immer genau in der Region beheimatet, in der es die passende offene Stelle gibt.
Dennoch gibt es unterm Strich eine größere Zahl von Stellen, die durch erwerbsfähige Bürgergeldempfänger besetzt werden könnten. Die Überlegung von Herrn Linnemann ist also grundsätzlich richtig, aber die Umsetzung ist eine Herausforderung. Richtig ist, dass die Übergangsrate von Bürgergeldempfängern in Beschäftigung zu niedrig ist.
Einsparungen durch Bürgergeld-Reform? Viel hängt an der Konjunktur
Würde das die Wirtschaft in Schwung bringen, wie die CDU hofft?
Fitzenberger: Ich glaube, das Argument geht in die falsche Richtung. Wir müssen die Wirtschaft in Schwung bringen, damit mehr passende Arbeitsplätze für diese Personengruppe entstehen. In dem langen Wirtschaftsboom der 2010er-Jahre ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger deutlich nach unten gegangen. Größer geworden ist die Zahl dann durch die steigende Zahl an Geflüchteten und die schlechtere wirtschaftliche Entwicklung seit 2020. Gleichzeitig befördert die mit zunehmender Aufenthaltsdauer stark gewachsene Beschäftigung von Geflüchteten die wirtschaftliche Entwicklung.
Die CDU argumentiert außerdem, dass die „neue Grundsicherung“ die Steuerzahler entlasten würde. Linnemann geht von Einsparungen von rund 10 Milliarden Euro aus.
Fitzenberger: Um beurteilen zu können, ob das wirklich so ist, müssten die geplanten Maßnahmen noch genauer spezifiziert werden. Viel wird aber an der konjunkturellen Lage hängen. Zudem muss man beachten, dass die steigenden Ausgaben beim Bürgergeld der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung und dem Anstieg in der Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine geschuldet sind. Letztere zu unterstützen, war eine politische Entscheidung vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs. Ihre Beschäftigungschancen nachhaltig zu erhöhen, erfordert Sprach- und Integrationskurse.
Ein weiterer wichtiger Grund für die steigenden Ausgaben sind die stark gestiegenen Wohnkosten. Das kann nur mit mehr bezahlbarem Wohnraum reduziert werden. Und dafür wird der Staat ebenfalls finanziell unterstützen müssen.
Im Moment sind viele Menschen, die keine Leistungen beziehen, unzufrieden mit dem aktuellen Bürgergeld-System. Sie fühle sich ungerecht behandelt. Könnte die „neue Grundsicherung“ dem entgegenwirken?
Fitzenberger: Die Gerechtigkeitsdebatte gibt es, das will ich nicht bestreiten, aber die Debatte wird den schwierigen Lebenslagen der überwiegenden Mehrheit der Menschen im Bürgergeld nicht gerecht. Wichtig ist deutlich zu machen, dass wenn jemand ein ähnlich hohes Erwerbseinkommen wie das Bürgergeldeinkommen hat, kann er aufstocken oder hat zumindest Anspruch auf Wohngeld – und gegebenenfalls auf weitere Sozialleistungen.
Im Ergebnis hat man immer mehr Geld in der Tasche, wenn man arbeiten geht. Die Frage ist dann, ob diese Mehr in der Tasche groß genug ist, dazu gibt es unterschiedliche Ansichten in der Bevölkerung. Davon hängt auch ab, ob eine Reform das Gerechtigkeitsempfinden steigern würde. Ob Änderungen in der Grundsicherung deren Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen werden, kann ich als Wissenschaftler im Moment nicht beurteilen.