Mithilfe der "Eiskönigin": Jahrzehntealtes Lawinen-Mysterium gelöst?

Forscher haben eine mögliche Erklärung für das „Unglück am Djatlow-Pass“ geliefert. Dabei hat auch Disneys Film „Die Eiskönigin“ eine wichtige Rolle gespielt.

Eines der letzten Fotos der Expedition. (Bild: DYATLOV MEMORIAL FOUNDATION)
Eines der letzten Fotos der Expedition. (Bild: DYATLOV MEMORIAL FOUNDATION)

Im Januar 1959 brachen zehn Studierende und Absolvent*innen der „Staatlich-Technischen Universität des Uralgebiets“ aus dem russischen Jekaterinburg auf zu einer Schneeexpedition. 350 Kilometer wollten sie gemeinsam auf Skiern zurücklegen, 16 Tage hatten sie dafür eingeplant, Proviant und Zelt dabei.

Bereits am zweiten Tag klagte einer aus der Gruppe, Juri Judin, über Gelenkschmerzen und trat deshalb die Rückreise an – allein. Das hat ihm vermutlich das Leben gerettet. Denn alle weiteren Expeditions-Teilnehmer*innen, sieben Männer und zwei Frauen, wurden Wochen später tot aufgefunden.

Hang zu flach, Leichen verteilt

Das sogenannte „Unglück am Djatlow-Pass“ ist wegen seiner mysteriösen Umstände in die Geschichte eingegangen. Jahrzehntelang rankten sich Mythen und Verschwörungen um die Todesursache: Die Leichen wurden an den verschneiten Hängen des Cholat Sjachl, was übersetzt so viel heißt wie „Berg des Todes“, entdeckt. Dort hatten die Leute ihr Nachtlager aufgeschlagen.

Die Funde zogen sich dabei über Monate hin. Erst die Schneeschmelze legte nach und nach die totenKörper frei. Ihre Fundorte lagen mitunter weit entfernt vom zerschlitzten Zelt. Dazu kam, dass die Körper grausame Verletzungen aufwiesen: Teilweise entkleidet, hatten sie gebrochene Schädel und Rippen, bei einigen fehlten Augen und sogar eine Zunge.

Außerirdische, Yetis, sowjetische Militärexperimente: Viele Erklärungen wurden im Laufe der Zeit bemüht und immer wieder verworfen. Bis vor kurzem hieß es noch von staatlicher Seite, eine massive „unbekannte Naturgewalt“ sei für die Verletzungen und den Tod verantwortlich. Ein Lawinenunglück galt dabei lange als unwahrscheinlich, weil es dafür keine dokumentierte Spuren gab und der Berg mit weniger als 30 Grad durchschnittlicher Hangneigung zu flach war. Doch das war falsch.

Nach Jahrzehnten aus Archiven freigegeben

Auf Drängen der hinterbliebenen Familien und Medien wurde der Fall im Jahr 2019 wieder eröffnet. Rund 60 Jahre nach der Tragödie also gab die russische Staatsanwaltschaft sämtliche Fallakten aus den Archiven frei.

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Wenig später, im Oktober desselben Jahres, wurde der Leiter des „Labors für Schnee-​ und Lawinensimulation“ an der Hochschule Lausanne, Johan Gaume, darauf aufmerksam. Und er war sofort fasziniert. Er suchte sich Hilfe und fand diese in Alexander Puzrin, Professor und stellvertretender Leiter des „Instituts für Geotechnik“ an der ETH Zürich. Beide waren überzeugt: Nur eine Lawine konnte als Unglücksursache in Frage kommen. Gemeinsam durchsuchten sie die Akten und übersetzten alles Wissen daraus in Computermodelle.

Ein unerklärlicher Ablauf

Hauptgrund, wieso sich die Lawinentheorie nie als Ursache durchsetzen konnte, war der unerklärliche Ablauf in der Unglücksnacht: Es fanden sich keine Schneeablagerungen, die typisch für eine Lawine gewesen wären, der Hang oberhalb des Lagers war eigentlich zu flach, es hatte auch keinen Neuschnee gegeben, der durch sein zusätzliches Gewicht eine Lawine hätte auslösen können, zudem gab es eine mindestens neunstündige Verzögerung zwischen dem Aufbau des Zeltes und einem möglichen Lawinen-Abgang. Zuletzt passten die Verletzungen nicht.

Doch Gaume und Puzrin sehen das mittlerweile anders. In einer Studie, die sie vergangene Woche im Journal Communications Earth & Environment veröffentlicht haben, konnten sie all das erklären.

Ihre Computersimulationen zeigten: Eine sogenannte Schneebrettlawine, gerade fünf Meter groß, hätte ähnliche Verletzungen hervorrufen können, wie sie die Leichen aufwiesen. Schneebrettlawinen entstehen plötzlich und können sofort hohe Geschwindigkeiten erreichen. Ihre geringe Größe würde zudem erklären, wieso damals keine Beweise gefunden wurden, wenn der Abrutsch von Neuschnee bedeckt worden wäre.

Disneys "Eiskönigin" ist im Kino schon längst eine Heldin - nun war sie in gewisser Weise auch für die Wissenschaft eine Hilfe. (Bild: Craig Barritt/Getty Images for Disney)
Disneys "Eiskönigin" ist im Kino schon längst eine Heldin - nun war sie in gewisser Weise auch für die Wissenschaft eine Hilfe. (Bild: Craig Barritt/Getty Images for Disney)

Kann Schnee solche Verletzungen hervorrufen?

Die zugrundeliegende Lawinen-Simulation stammte dabei aus ungewöhnlicher Quelle: dem Disney-Film „Die Eiskönigin“. Gaume war, so berichtet es National Geographic, schwer beeindruckt, wie gut der Film die Bewegung von Schnee dargestellt hatte. Deshalb fragte er bei den verantwortlichen Animator*innen nach und reiste anschließend sogar nach Hollywood, um sich mit ihnen zu treffen.

Tatsächlich durfte er die Animationen aus dem Film für seine Arbeit nutzen. Er modifizierte den Film-Code für seine eigenen Lawinen-Modelle. Damit kann er seither herausfinden, welche Auswirkungen Schneemassen auf den menschlichen Körper haben, welche Verletzungen sie also verursachen können. Das Ergebnis in diesem Fall: Stumpfe Traumata und Knochenbrüche, wie sie die Leichen am Cholat Sjachl hatten.

Niemand weiß, was in der Nacht wirklich geschehen ist

Auch die Topografie des Berges wurde lange Zeit falsch dargestellt. Tatsächlich war der Hang in Wellen geformt. An der entscheidenden Stelle wies er rund 30 Grad Neigung auf, ausreichend also für eine Lawine. Zuletzt konnten Gaume und Puzrin auch die Zeitdifferenz – und damit gleichzeitig das Mysterium um den fehlenden Neuschnee – erklären. Ihre Vermutung ist, dass sogenannte katabatische Winde in der Nacht wehten. Das sind Fallwinde, die vermutlich große Schneemengen von weiter oben des Berges herabtrugen und so die Last auf dem ohnehin prekären Hang erhöht haben.

In einer aktuellen Pressemitteilung der ETH äußern sich die Forscher dennoch vorsichtig zu ihren Erkenntnissen. „Tatsache ist, dass niemand wirklich weiß, was in dieser Nacht geschah. Aber wir haben starke quantitative Beweise, die die Lawinentheorie untermauern“, sagt Puzrin. Sie hofften deshalb, dass ihre Arbeit Einfluss haben werde. Immerhin, ergänzt Gaume, hätten sie jetzt den Hauptgrund, wieso die Lawinentheorie nie breite Anerkennung fand, aufgelöst.

Wieso manche Leichen allerdings keine Augen und Zungen mehr besaßen und zudem unbekleidet waren, das ist noch immer nicht geklärt.

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