Moment mal – der Zwischenruf von Saina Bayatpour - Eine Begegnung erinnert mich daran, wie absurde Dogmen die Integration verhindern

Saina Bayatpour fordert dazu auf, gesellschaftliche Dogmen zu hinterfragen.<span class="copyright">Amorefotografie, Patrick Pleul/dpa</span>
Saina Bayatpour fordert dazu auf, gesellschaftliche Dogmen zu hinterfragen.Amorefotografie, Patrick Pleul/dpa

Die Begegnung mit einer jungen Frau mit türkischen Vorfahren erinnert mich an die gesellschaftlichen Korsette, in die wir gezwängt werden. Die gibt es in allen Kulturen – aber vor allem für eine gute Integration müssen sie gesprengt werden.

Ich war kürzlich in einer Arztpraxis und kam mit der Arzthelferin ins Gespräch. Sie war eine junge, hübsche Frau, Anfang 20, und starrte immer wieder etwas genervt auf ihr Handy.

Ich fragte sie, warum sie sich so aufrege, und sie erzählte, dass es wieder einmal Stress mit ihrer Familie, genauer mit ihrer Urgroßmutter aus Anatolien, gebe. Die alte Frau sei mit dem Lebensstil der Arzthelferin nicht einverstanden und hetze ihre Mutter immer gegen sie auf.

„Was machst du denn Schlimmes?“, fragte ich neugierig. Sie sagte: „TikTok-Videos, bei denen ich Lieder nachsinge und dabei immer einen roten Lippenstift trage.“ „Und was ist daran so schlimm?“, fragte ich verwundert. „In ihren Augen tragen nur Huren roten Lippenstift“, sagte sie traurig.

Die junge Frau lebt in dritter Generation in Deutschland, ist 23 Jahre alt und muss sich von ihrer Urgroßmutter aus einem Dorf in Anatolien maßregeln lassen. Wow, dachte ich – denn mir fiel auf, dass sie mit dem Problem nicht allein ist.

Freiheit musste oft hinter vermeintlichen Dogmen angestellt werden

Wenn ich auf meine eigene Jugend zurückschaue, gibt es viele ähnliche Situationen. Ich musste mich zwar nicht wie einige Freundinnen heimlich in der U-Bahn umziehen und schminken, weil die Eltern das Ausgehen mit 18 Jahren immer noch verboten, oder meinen Freund verstecken.

Aber auch in meiner Kindheit gab es viele Situationen, in denen die eigene Individualität und Freiheit hinter vermeintlichen gesellschaftlichen Dogmen angestellt werden mussten. Ich gestand erst im Alter von 32 Jahren meiner Mutter, dass ich rauche. Begonnen hatte ich schon mit Anfang 20, und Gott sei Dank habe ich vor 8 Jahren endlich damit aufgehört.

„Was sollen die Leute nur denken?“, ist ein Satz, den gerade wir Mädchen nur zu oft hören mussten und teils immer noch hören. Manchmal reicht sogar schon ein gewisser Blick zur Maßregelung aus.

Im Iran rauchen Frauen nicht öffentlich, und wenn, dann müssen sie verheiratet sein. Obwohl ich seit meinem siebten Lebensjahr in Deutschland lebe und diese Regel an Absurdität kaum zu übertreffen ist, hatte ein Teil von mir dennoch Angst, es meiner Mutter zu gestehen. Als ich es endlich tat, lachte sie laut und konnte mir sogar den Tag nennen, an dem ich damit begonnen hatte, und siegessicher dachte, ich könne es verheimlichen.

Familiäre Ablehnung kann der Preis für Individualität sein

Mir war von klein auf ziemlich egal, was andere denken. Als junges Mädchen war ich zu sehr mit meiner eigenen Entwicklung und meinen Träumen beschäftigt. Und als erwachsene Frau vertrete ich die Meinung, dass jeder vor seiner eigenen Türe kehren sollte; denn gerade die, die am lautesten über andere schimpfen und urteilen, haben in den meisten Fällen den größten Dreck am Stecken.

Doch nicht viele leben ihre Individualität wirklich aus. Wenn ich ehrlich bin, löste ich mich erst Anfang 40 wirklich komplett von allen kulturellen Zwängen und gesellschaftlichen Korsetten. Der Preis war neben der absoluten Freiheit auch der Verlust von einigen Familienmitgliedern und Freunden.

Bei Umfragen zu den größten Ängsten liegt Ablehnung oft auf den vordersten Plätzen. Viele Menschen fürchten sich davor, von anderen nicht akzeptiert oder gemocht zu werden. Geschieht das im eigenen familiären Umfeld, ist es für die Befragten eine absolute Horror-Vorstellung.

Korsette gibt es in allen Kulturen

Doch nicht nur meine Kulturkreise sind betroffen; ich kenne tausende solcher Geschichten aus meinem Umfeld und beobachte fast täglich neue. Eine Freundin wollte sich nach 20 Jahren scheiden lassen, weil sie unglücklich in ihrer Ehe war.

Ihr Vater wollte ihr das vehement ausreden. „Warum willst du das tun?“, fragte er sie, und als sie antwortete, dass sie unglücklich sei, sagte er verstört, dass das kein Grund sei. Er sei auch nicht glücklich mit ihrer Mutter, aber gläubige Katholiken ließen sich nicht scheiden.

Ein Freund von mir, dessen Eltern aus Marokko sind, wurde, obwohl er in Deutschland geboren ist, gezwungen, eine Frau aus der Stadt seiner Eltern in Marokko zu heiraten. So gehöre es sich, und als er sich weigerte, drohten sie ihm, ihn aus der Familie zu stoßen oder ihn nach Marokko zu schicken. Er war übrigens noch nie dort und spricht nicht einmal gut Arabisch.

 

Eine jüdische Freundin verliebte sich in einen wunderbaren Mann, dessen Familie Muslime sind. Ihre Eltern verboten ihr, diese Beziehung weiterzuführen, obwohl er nicht einmal den Glauben seiner Eltern teilte. Der Druck wurde so immens, dass sie die Beziehung beendete und seitdem unglücklich keine festen Bindungen mehr eingeht.

Ein Freund von mir ist ein Überflieger, wie man so schön sagt. Er hat die Chance bekommen, eine extrem gut bezahlte Position im Silicon Valley anzutreten. Er muss hier aber den Hof seiner Eltern übernehmen. Das sei nun mal seine Aufgabe, schließlich sei der Hof schon seit Generationen ein Familienbetrieb. Er sagte schweren Herzens den Job ab.

Es geht um Macht und Angst

Diese Geschichten haben alle unterschiedliche Facetten und Formen, aber sie alle führen zu einem Hauptelement zurück, das viele Familien als Basis ihres Handelns nutzen: emotionale Macht. Wir sind von klein auf Systemen untergeordnet – politischen, gesellschaftlichen, manchmal religiösen und immer familiären. Sie alle haben unterschiedliche Dynamiken, nutzen aber immer die gleichen Werkzeuge: Macht und Angst.

Viele hinterfragen öffentliche Systeme, manche nehmen sie hin, andere sind wütend, die wenigsten unternehmen wirklich etwas dagegen. Je schlechter es uns geht, desto mehr hinterfragen wir das Außen.

Anders sieht es bei der Innenschau aus. Familiäre Systeme sind die erste Instanz, der wir begegnen, und der wir selten entfliehen können, außer wir wenden uns gänzlich von unserer Familie ab. Sehr viele Probleme, die wir als Erwachsene haben, finden ihren Ursprung in der Kindheit und im Elternhaus.

In letzter Zeit hinterfrage ich viel mehr solche Herrschaftsformen. Ich frage mich, wo gewisse Dynamiken ihren Ursprung haben und ob die Suche nach Zugehörigkeit auch negative Konsequenzen mit sich bringt.

Welchen Preis sind wir bereit, für unsere Entfaltung zu bezahlen?

Vielen jungen Menschen, wie besagter Arzthelferin, wird die Integration durch kulturelle Einschränkungen erschwert. Dies hat auch maßgeblichen Einfluss auf die Inklusion, denn wenn jemand in einer Gesellschaft lebt, die Freiheit proklamiert, sie aber nicht leben darf, führt das automatisch dazu, dass man zum Außenseiter wird. Es entsteht Frust auf beiden Seiten.

Sind wir als Individuen wirklich frei? Frei, uns selbst zu entfalten, und falls ja, welchen Preis sind wir dafür bereit zu zahlen? Oder ist die Angst vor Ausgrenzung und Isolation so groß, dass wir von klein auf gelernt haben, uns in Hierarchien unterzuordnen, sie vielleicht sogar unbewusst suchen und unsere Bedürfnisse nach hinten zu stellen?

Zwischenruf: Stellen Sie sich einmal die Frage, wo Sie komplett frei sind in Ihrem Denken und Handeln und wo doch andere oder gar alte Systeme eingreifen.

So kann Integration und Inklusion neue Formen annehmen

Obwohl kulturelle, familiäre und gesellschaftliche Zwänge uns oft herausfordern, haben wir die Fähigkeit, unsere individuelle Freiheit zu erkennen und für unsere Sehnsüchte und Bedürfnisse einzustehen. Zumindest in vielen Ländern auf dieser Welt. Diesen Luxus haben leider nicht alle.

Indem wir uns selbst hinterfragen und uns von äußeren Erwartungen befreien, können wir ein authentisches Leben führen und ein Gefühl der Zugehörigkeit in einer respektvollen und unterstützenden Gemeinschaft finden. So kann die Individualität wachsen, der Frust schwindet und auch die Integration und Inklusion kann neue Formen annehmen.