Monster mit Charisma: TV-Dokumentation rollt Missbrauch von Lügde auf

Die brisante neue Dokumentation versucht sich an einer ersten Aufarbeitung des Missbrauchsfalls vom Camping-Platz in Lügde-Elbrinxen im Weserbergland - und an einer Erklärung für die vielen haarsträubenden Ermittlungspannen.

Die brisante neue Dokumentation versucht sich an einer ersten Aufarbeitung des Missbrauchsfalls vom Camping-Platz in Lügde-Elbrinxen im Weserbergland - und an einer Erklärung für die vielen haarsträubenden Ermittlungspannen.

Es ist ein Szenario, das ganz Deutschland betroffen machte: Seit Jahren führte ein Dauer-Camper, den alle, die ihn kannten und schätzten, "Addy" nannten, ein unfassbares Doppelleben auf einem Wohnwagenplatz in Lügde-Elbrinxen im Weserbergland. Seine Behausung hatte er zu einer Art Abenteuerspielplatz umgebaut - auf der Kinder immer willkommen waren. Welche grausamen Ziele der vermeintlich kinderfreundliche Andreas V. dort tatsächlich verfolgte, wurde erst viel zu spät bekannt: Er verführte die Kinder zu Sexspielen vor der Kamera, die er teilweise auch live ins Internet stellte. Die ARD-Dokumentation "Die Story im Ersten: Lügde: Die Kinder, die keiner schützte" (Mittwoch, 26. Juni, 22.45 Uhr) rollt den Fall, der ab dem 27. Juni vor Gericht verhandelt wird, nun noch einmal auf. Wie der brisante Beitrag aufzeigt, konnte "Addy" sich nahezu ungestört an seinen schutzlosen Opfern vergehen.

Schlimmer noch: Weil er in zynischer Perversion seiner wahren Absichten dem örtlichen Jugendamt als vertrauenswürdig galt, wurde dem Mann sogar ein junges Mädchen als Pflegekind zugeteilt. Auch ihm fügt er sexuelle Gewalt zu - und nutzte es als Lockvogel für weitere Kinder. Der erschütternde Filmbericht von Britta van der Heide und Marco Roesseler sucht nach Antworten auf die vielen Fragen, die den schlagzeilenträchtigen Fall umgeben. Vor allem, so hofft man, könnten erste Erklärungen zu den skandalös vielen Ermittlungspannen gegeben werden.

Die Recherche- und Dreharbeiten für die Dokumentation, an der bis kurz vor Sendetermin mit Hochdruck gearbeitet wird, gestalteten sich mitunter schwierig, wie Gudrun Wolter, die verantwortliche Redakteurin beim WDR, bestätigte: "Ein solches aktuelles Dokuprojekt ist sehr aufwendig und erfordert einen unglaublich hohen Organisations-, Koordinierungs- und Kommunikationsaufwand", sagt sie. "Es ist eine Koproduktion von WDR mit NDR - weil die Geschichte in beiden Senderegionen spielt. Es sind mehrere Redaktionen in beiden Sendern eingebunden, und ein Team von acht Autorinnen und Autoren, die Interviews, Hintergrundrecherchen oder Filmsequenzen zuliefern, während ein Headautor längst im Schnitt sitzt. Die Fäden laufen hier bei uns in Köln zusammen. Es sind fortwährend juristische Fragen zu klären, und es wird natürlich die ganze Zeit weiter recherchiert - bis zum Moment der Ausstrahlung", erklärt die WDR-Verantwortliche.

Besonders wichtig war der Redaktion, dass sich dem Autoren-Team nicht nur die inzwischen erwachsenen Opfer, sondern auch die Familien jüngerer Kinder, die zu Opfern wurden, im Gespräch öffneten. Mit Rücksicht auf die Betroffenen kann der Sender dabei die Interviews nur stark bearbeitet zeigen. "Manches werden wir nur im Text wiedergeben können, weil selbst verfremdete Aufnahmen mit nachgesprochener Stimme nicht möglich sind. In anderen Fällen sind die Interviewten im Bild nicht erkennbar, und die Stimme wird nachgesprochen", erklärt Gudrun Wolter. "Wir müssen bei all unseren Recherchen dafür Sorge tragen, dass die Betroffenen geschützt bleiben und nicht erkannt werden können. Der Ort, an dem diese unfassbare Gewalt an so vielen Kindern jahrelang geschah, ist ja übersichtlich - kleine Hinweise genügen, um die Betroffenen in der Nachbarschaft vor Ort identifizieren zu können. Das wollen wir in jedem Fall vermeiden."

"Was man sich eigentlich nciht einmal vorstellen möchte"

Erschwerend kommt hinzu, dass sich das Team mitten in einem laufenden Ermittlungsverfahren bewegte. Oft stieß man daher auf Schweigen. "Unsere Recherchen zu den Hintergründen des Behördenversagens gestalten sich deshalb natürlich auch schwierig, weil auch gegen Mitarbeiter bei Polizei und Jugendamt ermittelt wird und unsere Fragen dazu, wer wann was versäumt hat und vor allem warum, auch die Fragen der Ermittler sind", berichtet Gudrun Wolter vom WDR. "Filmisch ist die Herausforderung, die vielen Fäden der komplizierten Geschichte so zu verweben, dass dem Zuschauer die Übersicht nicht verloren geht. Und die größte Herausforderung besteht in der bildlichen Umsetzung dessen, was den Kindern geschehen ist und man sich eigentlich nicht einmal vorstellen möchte."

Der "Fall Lügde" wurde am 29. Januar 2019 von den Ermittlungsbehörden öffentlich gemacht. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Detmold besteht der Verdacht auf 1.000 Einzeltaten innerhalb von rund zehn Jahren. Allein dem 56-jährigen Hauptangeklagten werden laut NDR 298 Fälle vorgeworfen. Er soll demnach insgesamt 23 Mädchen missbraucht und mindestens zehn von ihnen vergewaltigt haben. Der zweite Angeklagte - ein 34-Jähriger aus Steinheim - habe sich laut Staatsanwaltschaft an acht Mädchen und neun Jungen vergangen. Die Missbrauchsfälle waren ans Licht gekommen, nachdem die Mutter eines zehnjährigen Opfers Ende 2018 Strafanzeige gegen den 56-Jährigen gestellt hatte.