"Muskeln, Haarfarbe und die gebräunte Haut - alles stimmt": Über das Erfolgsgeheimnis von Reality-TV

Sebastian Preuss, ehemals Kickbox-Weltmeister, buhlte 2020 als "Bachelor" um die Herzen von 22 Single-Frauen. Muskelbepackt und braungebräunt stimmte er genau mit dem optischen Archetypen eines Kandidaten in einer Datingshow überein, wie Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher von der Universität Hamburg erklärt. (Bild: TV NOW)
Sebastian Preuss, ehemals Kickbox-Weltmeister, buhlte 2020 als "Bachelor" um die Herzen von 22 Single-Frauen. Muskelbepackt und braungebräunt stimmte er genau mit dem optischen Archetypen eines Kandidaten in einer Datingshow überein, wie Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher von der Universität Hamburg erklärt. (Bild: TV NOW)

Im Reality-TV wird gestritten, geweint, geschrien - und Millionen von Zuschauern verfolgen das Treiben vor dem Fernseher. Doch warum eigentlich? Die Medienwissenschaftlerin Kristin Bleicher erklärt, was hinter dem Phänomen Reality-TV steckt.

Von "Frauentausch" über das Dschungelcamp bis hin zu "Der Bachelor": Kaum ein Genre ist im deutschen TV mit einer so hohen Dichte vertreten wie das Reality-TV. Doch woher kommt die Affinität der Zuschauer zu einer Programmsparte, deren intellektueller Anspruch laut der Medienwissenschaftlerin Prof. Dr. Joan Bleicher teils "eher rudimentär ausgeprägt" ist? Und wie schätzt die Expertin der Universität Hamburg die Vorwürfe von Kritikern ein, Reality-TV würde verblöden? Die Antworten gibt sie im Interview. Außerdem erklärt Bleicher, welche Eigenschaften die typischen Teilnehmer von Datingshows wie "Love Island" (derzeit bei RTLZWEI) oder "Der Bachelor" (RTL) auszeichnen.

teleschau: Aus welchen Gründen sind Reality-TV-Sendungen bei Zuschauern so beliebt?

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher: Viele schauen solche Sendungen mit dem Ziel des sozialen Vergleichs. Gerade wenn das Leben sozial schwacher Menschen gezeigt wird, fühlen sich Zuschauer häufig überlegen und nutzen diese Sendungen, um sich in ihrer eigenen Lebensrealität bestätigt zu fühlen. Andere Formate werden hingegen als Freakshows gesehen oder als unterhaltungsorientierte Belustigung über Menschen, die anders aussehen oder anders leben als man selbst. Vielfach werden Formate auch als Komik rezipiert, obwohl sie als solche gar nicht gedacht sind.

teleschau: Als 2000 "Big Brother" startete, war das ein veritabler Skandal. Heute hat bei neu startenden Formaten ein gewisser Gewöhnungseffekt eingesetzt ...

Bleicher: Diese Meinung kann ich so nicht teilen. Wenn Sie die letzten Ausgaben von "Das Sommerhaus der Stars" oder "Promis unter Palmen" gesehen haben, wurden dort Debatten über Mobbing im Reality-TV entfacht. Da merkt man, dass durchaus noch Skandalpotenzial vorhanden ist. Allerdings ist eine höhere Akzeptanz des televisionären Menschenzoos eingetreten. Menschen im Fernsehen zu beobachten ist nicht mehr so skandalbesetzt, wie es in der ersten Staffel von "Big Brother" 2000 noch der Fall war.

teleschau: In den letzten Jahren wurde Reality-TV-Star zum Beruf. Wie ist das passiert?

Bleicher: Die ersten Stars dieser Richtung gingen aus der ersten Staffel von "Big Brother" hervor. Von der ersten Staffel ist aber eigentlich nur noch Jürgen Milski präsent - und der weniger im Reality-TV, sondern eher als Ballermann-Gesangsunterhalter. Das heißt, das Star-Potenzial ist nicht sehr ausgeprägt, und es bleibt auch zu fragen, in welcher Weise das monetarisiert wird. In weiteren Formaten haben sich immer mehr sogenannte Reality-TV-Stars herausgebildet, die den Weg durch die Formate machen - bis hin zum "Perfekten Promi Dinner" oder "Promi Shopping Queen". Das Reality-TV produziert quasi seine eigenen Darsteller. Gerade "Germany's Next Topmodel" wird ja immer wieder als Casting für das Dschungelcamp gewertet. Das heißt, die Formate produzieren wechselseitig die Darsteller der nächsten Formate. Besonders publikumswirksame Kandidaten werden immer weiter vermarktet.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher, Medienwissenschaftlerin von der Universität Hamburg, forscht zum Thema Reality-TV. Unter anderem schrieb sie das Buch "Reality-TV in Deutschland: Geschichte, Themen, Formate". (Bild: Sebastian Engels)
Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher, Medienwissenschaftlerin von der Universität Hamburg, forscht zum Thema Reality-TV. Unter anderem schrieb sie das Buch "Reality-TV in Deutschland: Geschichte, Themen, Formate". (Bild: Sebastian Engels)

"Der intellektuelle Anspruch ist eher rudimentär ausgeprägt"

teleschau: Um Teil dieses Prozesses zu werden, müssen Kandidaten gewisse Merkmale mitbringen. Worauf kommt es an?

Bleicher: Da stellt sich zunächst die Frage, ob sie sich selbst vermarkten oder in eine bestimmte Richtung inszeniert werden. Es gibt ja auch Managements, die auf Reality-TV-Stars spezialisiert sind und für diese ein Image konstruieren. Außerdem können die Darsteller häufig selbst gar nicht entscheiden, wie sie auftreten oder inszeniert werden, weil das etwa durch die Realisatoren vorgegeben wird. Regisseure von Reality-Formaten legen sehr genau fest, wie die Figuren charakterisiert sind und wie sie sich zu verhalten haben. Bei "Frauentausch" werden häufig eine "gute" und eine "böse" Frau gegenübergestellt. Außerdem werden Lebensmodelle abqualifiziert, und es wird dafür gesorgt, dass möglichst viele Konflikte da sind, viel geweint und geschrien wird. In der Produktion wird sehr szenisch an der Inszenierung gearbeitet. In ähnlicher Form finden Sie das auch in anderen Formaten.

teleschau: Genau solche Schwarz-Weiß-Zeichnungen nehmen Kritiker zum Anlass, um zu behaupten, Reality-TV würde Narzissmus und Sexismus proklamieren und wahrscheinlich auch zur vielzitierten allgemeinen Verdummung beitragen ...

Bleicher: Das kann man so pauschal nicht sagen, weil das stark von den einzelnen Formaten abhängt. Da muss man genauer in die Formate reinschauen und die Wirkungsprinzipien untersuchen. Dann stellt sich auch die Frage, inwieweit Gewalt legitimiert wird. Formate wie "Love Island", wo Frauen fast ausschließlich über ihre schönen Körper funktionieren, werfen hingegen die Frage auf, inwieweit Sexismus vorangetrieben wird.

teleschau: Wie passen solche antiquierten Geschlechterbilder in die heutigen Gesellschaft?

Bleicher: Das ist eigentlich nicht zeitgemäß, wird aber vorangetrieben. Es ist Teil des Unterhaltungsprinzips, das auch bei den Männern eher auf Muskeln denn auf Gehirn setzt. Gerade diese Stereotypen sind auch die Grundlage einer gewissen Komik. Aber ich glaube auch nicht, dass hier die Intention besteht, in irgendeiner Form zeitgemäß zu sein oder Gesellschaftsbezug aufzuweisen. Es ist eine reine Unterhaltungsorientierung, wo man verschiedene Bausteine wie körperliche Attraktivität, exotische Handlungsorte, Konflikte, Liebe und sinnlose Spieleinheiten miteinander kombiniert.

teleschau: Welche Eigenschaften machen den Archetypen eines Kandidaten bei Datingformaten aus?

Bleicher: Es variiert, aber es sind vor allem attraktive Frauen und Männer. Muskeln, Haarfarbe und die gebräunte Haut - alles stimmt. Und der intellektuelle Anspruch ist eher rudimentär ausgeprägt. Außerdem unterhält man sich über so sinnfreie Themen wie Kleidung, Getränke oder Schminke. Und man findet sich selbst ganz toll, das gehört zum Archetyp dazu. Bei den Männern hat man zudem immer den Eindruck, sie bräuchten gar keine Frauen, weil sie so in sich selbst verliebt sind.

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Reality-TV-Star als Beruf - eine Entwicklung, die mit der ersten "Big Brother"-Staffel 2000 einsetzte, wie Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher weiß. Wirklich präsent sei heute jedoch nur noch Jürgen Milski, und der auch eher als "Ballermann-Gesangsunterhalter". (Bild: 2016 Getty Images)
Reality-TV-Star als Beruf - eine Entwicklung, die mit der ersten "Big Brother"-Staffel 2000 einsetzte, wie Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher weiß. Wirklich präsent sei heute jedoch nur noch Jürgen Milski, und der auch eher als "Ballermann-Gesangsunterhalter". (Bild: 2016 Getty Images)

"Im Reality-TV wird es eine weitere Übersättigung geben"

teleschau: Welche Erfolgsfaktoren zeichnen Formate im Reality-TV aus?

Bleicher: Aus Sicht der Sendeanstalten ist Reality-TV eine sehr kostengünstige Form der Produktion, die einen gewissen Durchschnitt an Quoten garantiert. Deswegen wird Reality-TV sehr gerne ins Programm integriert. Meist bezahlt man die Laiendarsteller entweder schlecht oder gar nicht. Dadurch sind diese Sendungen deutlich billiger als fiktionale Formate, für die man unter anderem Schauspieler bezahlen muss.

teleschau: Die Zuschauerschaft von Reality-TV-Formaten ist sehr vielfältig. Trifft der viel verwendete abwertende Begriff "Unterschichtenfernsehen" teilweise zu?

Bleicher: "Unterschichtenfernsehen" stammt aus der Beobachtung, dass gerade im Tagesprogramm ausgestrahlte Reality-TV-Formate sehr viel von Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger geschaut werden. Primetime-Formate wie das Dschungelcamp sind deutlich kostenintensiver, auch weil sie an anderen Handlungsorten gedreht werden. Diese Sendungen haben ein größeres Publikum und ein breiteres Set an Unterhaltungsdimensionen. Gerade das Dschungelcamp wird viel von Akademikern geschaut, etwa aufgrund ihres Interesses an der Dimension des Sozialexperiments: Wie verhalten sich Gruppen über eine bestimmte Zeit? Aber natürlich ist auch die Veranschaulichung der Aufmerksamkeitsökonomie relevant: Mit welchen Strategien versuchen Menschen über eine gewisse Zeit hinweg, kollektive Aufmerksamkeit zu erzielen.

teleschau: Welche Entwicklungen erwarten Sie künftig im Bereich Reality-TV?

Bleicher: Es wird sich weiter ausdifferenzieren, die Formate werden spezieller im thematischen Zugriff und bei den Inszenierungen. Es wird eine weitere Übersättigung geben. Darauf reagieren die Formatproduzenten mit einer Reizsteigerung, etwa bei Konflikten oder Tabudurchbrechungen.

(Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher, Medienwissenschaftlerin von der Universität Hamburg, forscht zum Thema Reality-TV. Unter anderem schrieb sie das Buch "Reality-TV in Deutschland: Geschichte, Themen, Formate".)

"Das Reality-TV produziert quasi seine eigenen Darsteller", beschreibt Reality-TV-Expertin Prof. Dr. Joan Bleicher. Viele Kandidatinnen von Heidi Klums (Bild) Modelsuche bei "Germany's Next Topmodel" seien später im RTL-Dschungelcamp gelandet. (Bild: 2019 Getty Images/Florian Ebener)
"Das Reality-TV produziert quasi seine eigenen Darsteller", beschreibt Reality-TV-Expertin Prof. Dr. Joan Bleicher. Viele Kandidatinnen von Heidi Klums (Bild) Modelsuche bei "Germany's Next Topmodel" seien später im RTL-Dschungelcamp gelandet. (Bild: 2019 Getty Images/Florian Ebener)